Zwischen Utopien und Realität

Zwischen Utopien und Realität

23. August 2024

Es sind nicht Herkunft oder Religion, die zählen sollten, sondern die Haltung.

Tuba, Fellow der letzten Sommerkonferenz, beleuchtet die Realität des Bildungssystems aus ihrer Sicht als Vertretungslehrerin. Sie spricht über strukturelle Diskriminierung und die Frage, warum Schule für manche Schüler:innen eher eine Belastung als eine Chance ist.

Als ich die Berufsschule vor fast fünf Jahren verlassen habe, dachte ich mir: „Endlich, nie wieder Schule.“ Fünf Jahre später stehe ich als Vertretungslehrerin vor einer Grundschule, um die Lehrkräfte zu unterstützen. Interessanterweise bin ich an der Schule gelandet, an der meine Geschwister ebenfalls vor einigen Jahren Schüler:innen waren. Der Konsens unter meinen Geschwistern: „Die ganze Schule, Lehrkräfte und Kinder waren schlimm. Endlich sind wir da raus. Wie kannst du denn dort arbeiten?“

In der weiterführenden Schule oder Oberstufe kann ich solche Aussagen eher nachvollziehen als in einer Grundschule. Warum haben bereits Grundschüler:innen diese Einstellung? Die Rektorin, Co-Rektorin und viele der Lehrkräfte, die ich kennenlernen und begleiten durfte, haben bei mir einen positiven Eindruck hinterlassen, und so konnte ich als Lehrkraft manche Aussagen meiner Geschwister nicht nachvollziehen. Dennoch möchte ich meinen Geschwistern ihr Empfinden nicht absprechen, denn eins ist sicher: Als Vertretungslehrerin bin ich den Lehrkräften keine sechs bis acht Stunden am Tag ausgesetzt, so wie es die Schüler:innen sind. Demnach kann ich mich nicht in sie hineinversetzen. Jedoch nehme ich in der Berufswelt bei Kolleg:innen das eine oder andere wahr, das beschwerlich ist und einem zusetzt, vor allem wenn man sich jeden Tag begegnet und miteinander zu tun hat. Warum sollten dann die Schüler:innen von solchen Erfahrungen verschont bleiben? Das hat mich stutzig gemacht, und ich fragte in meinem Freundeskreis unter denen, die auf Lehramt studieren, nach: “Wie ist es denn bei dir an der Schule? Wie sind die Lehrer:innen so?“

„Schlimm“, vertraut mir eine sehr enge Freundin an. Und dem kann ich nur zustimmen, denn wenn Schüler:innen einer Vertretungslehrerin anvertrauen, welche abwertenden und menschenverachtenden Aussagen manche Beamte gegenüber Schüler:innen aufgrund ihrer Herkunft und Religionszugehörigkeit äußern, dann ist es letztendlich nur noch eine Frage der Zeit, bis die Schulpflicht in Deutschland als eine Hürde und Einschränkung der eigenen Entfaltung bezeichnet werden kann – obwohl die schulische Bildung als einzige verpflichtende Sozialisationsinstanz für die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen eine wesentliche Rolle spielt.[1] Dazu kommt noch der mediale Einfluss, der rassistische und menschenverachtende Haltungen seitens der Politiker:innen salonfähig macht. Der Diskurs unter Politiker:innen und vielen Lehrkräften lautet zusammengefasst: „Schüler:innen mit Migrationsgeschichte können sich dem Schulsystem nicht fügen und sind somit die Auslöser für die ganzen Probleme.“ Oder ist meine Wiedergabe doch etwas zugespitzt formuliert?

Schulen sind [...] kein neutraler Ort, an dem gesellschaftliche Ungleichheits- und Diskriminierungsverhältnisse aufhören zu wirken.
Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit (UEM)

Nun, wenn wir in den Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit (UEM), der im Sommer 2023 nach 2,5-jähriger Arbeit vorgelegt wurde, zum Thema Bildung schauen, kann man meine durchaus zugespitzte Formulierung eventuell nachvollziehen. In einem Absatz heißt es:

„Schulen sind als staatliche Organisationen in bestehende gesellschaftliche Strukturen eingebettet. Daher sind sie kein neutraler Ort, an dem gesellschaftliche Ungleichheits- und Diskriminierungsverhältnisse aufhören zu wirken. Im Gegenteil: In zahlreichen Studien ist deutlich geworden, dass Schulen von politischen, kulturellen und symbolischen Machtverhältnissen durchzogen sind und damit an der (Re-)Produktion von sozialer Ungleichheit beteiligt sind.“[2]

Weiterhin heißt es:

„Dass Schule nicht nur erzieht, sondern durchaus auch als Institution diskriminiert, ist spätestens mit der breit angelegten Studie „Herstellung ethnischer Differenz in der Schule“ von Gomolla und Radtke 2007 belegt worden.“[3]

Meine Fragen nehmen zu, wenn ich lese, dass mehr als ein Drittel aller Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter 25 Jahren in Deutschland eine Migrationsgeschichte haben [4] und es nachweisbar ist, dass die Ursachen von Benachteiligung im Bildungsbereich in etablierte Strukturen und Normen eingebettet und als institutionelle Form von Diskriminierung zu verstehen sind. [5] Der Fokus des UEM-Berichts liegt zwar auf Muslimfeindlichkeit, aber eins lässt sich festhalten: Die Erkenntnis, dass es nicht nur Emotionen, Missverständnisse oder Überspitzungen waren. Es waren und sind Realitäten – die heute in dem Bericht schwarz auf weiß festgehalten sind. Wie oft wurden wir Opfer von Gaslighting oder ähnlichem, nur weil wir etwas gespürt haben, das wir nicht benennen konnten? Als ich anfing, diesen Bericht zu lesen, hätte ich nach fast jedem zweiten Satz sagen können: „Genau so habe ich das auch empfunden oder erfahren.“ Jenes musste passieren, um Lösungsansätze anzugehen. „Indem wir einen Missstand benennen, geben wir ihm einen Raum, machen ihn begreifbar. Erfahrungen bleiben nicht länger namenlos, unsagbar.“ (Kübra Gümüşay) [6]

Das Buch Generation Haram von Melisa Erkurt ist ein perfektes Beispiel für die Analysen, welche unter anderem im Bericht festgehalten wurden. Ihr Ausgangspunkt aufgrund ihrer familiären Situation als Schülerin, die Erwartungshaltung der Schule und Lehrkräfte selbst und die Erkenntnis als Lehrerin nach all den Jahren: es hat sich fast nichts verändert. „Nur wer sich assimiliert und völlig verausgabt, bekommt womöglich die Chance, das vorgezeichnete Schicksal eines Migranten in Österreich zu durchbrechen. So war es zu meiner Zeit, so ist es heute.“[7]

Stereotypen finden sich auch in Lehrplänen und Schulbüchern wieder und vertiefen die Identitätskrise der Schüler:innen, anstatt sie zu fördern

Nach dem Austausch mit Yağmur, einer der Fellows für die Sommerkonferenz 2023, wird mir schnell klar, dass ein Kampf für eine „Dream School“ stattfindet, den viele Schüler:innen, Lehrkräfte und weitere Akteur: innen führen, sei es auf individueller, kultureller oder struktureller Ebene. Die gegenwärtige Situation der „Old School“ kann sich im Gewaltdreieck nach Johan Galtung [8] wiederfinden: Strukturelle Gewalt spiegelt sich durch politische und gesellschaftliche Äußerungen, Haltungen und Wünsche wider.  Muslim:innen sollen nicht in Führungspositionen gesehen werden.  Stereotypen finden sich auch in Lehrplänen und Schulbüchern wieder und vertiefen die Identitätskrise der Schüler:innen, anstatt sie zu fördern.

Auch auf der strukturellen Ebene gibt es Akteur:innen, die eine Öffnung der jeweiligen Diskurse anstreben. Leider werden diese dennoch von der Dominanzgesellschaft überschattet und finden nur in einigen wenigen Bereichen Gehör. Dies lässt sich auf die kulturelle Gewalt zurückführen, durch die über Jahrzehnte hinweg ein „Islambild“, „Muslimbild“, „Geflüchtete“ oder „Gastarbeiterbild“ propagiert wird und diese Gruppen als „fremd“ bezeichnet werden. Es entstand das Bild einer „Parallelgesellschaft“, die sich angeblich nicht integrieren möchte, wobei das Ziel durchaus die Assimilation ist. Es wurden Stereotypen über „Paschas“ an Schulen als Unruhestifter verbreitet und über unterdrückte Mädchen, die ihre Freiheit nur durch das Ablegen der Kopfbedeckung erreichen könnten. Diese Stereotypen werden heute erneut salonfähig gemacht und dringen noch tiefer in die strukturelle Ebene ein. Nicht die Herkunft oder Religionszugehörigkeit sollte eine ausschließende Rolle spielen, sondern die Haltung. Leider lässt sich diese Einstellung viel zu selten im öffentlichen Diskurs beobachten, vor allem wenn es um Menschen mit Migrationsgeschichte geht.

Je nachdem, wie offen die kulturelle und strukturelle Gewalt innerhalb der Gesellschaft ausgelebt wird, lässt sich auch direkte Gewalt spüren. Die anhaltende Ablehnung und Erwartungshaltung sowie der (positive) Rassismus gegenüber Schüler:innen und Lehrer:innen mit Migrationsgeschichte setzt die Betroffenen unter enormen Druck. Die Frustration und das Ohnmachtsgefühl sowie die Suche nach Antworten verstärken sich. Akteur:innen, die selbst in strukturelle oder kulturelle Traditionen „eindringen“ können, müssen bedauerlicherweise feststellen, dass es durchaus mehr helfender Hände bedarf als angenommen. Dies wird auch anhand der erarbeiteten Ergebnisse der diesjährigen Sommerkonferenz ersichtlich. Es braucht die Unterstützung von Politiker:innen und anderen Akteur:innen, die sich ihrer Verantwortung bewusst werden und Wege und Möglichkeiten bieten. Andernfalls kann man zwar davon ausgehen, dass die Schule doch so vieles (mehr) kann, jedoch weiterhin mit jeder Generation aufs Neue scheitern wird.

[1] Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit (UEM): Muslimfeindlichkeit – eine deutsche Bilanz, Seite 139, https://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Studien/uem-abschlussbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=11.

[2] UEM-Bericht, Seite 139f.

[3] UEM-Bericht, Seite 142.

[4] UEM-Bericht, Seite 137.

[5] UEM-Bericht, Seite 137.

[6] ERKURT, M. (2020). Generation Haram. Paul Zsolnay. Seite 39f.

[7] ERKURT, M. (2020). Generation Haram. Paul Zsolnay. Seite 39.

[8] Merkblatt Gewaltdreieck Galtung. (2023). Friedensbildung-bw.de. https://www.friedensbildung-bw.de/friedenskonzepte-und-friedenstheorien/gewaltdreieck-johan-galtung (16.10.2023).

Der Beitrag ist im Rahmen des Fellowships bei der Sommerkonferenz 2023 entstanden.

#kritik #rassismus

  • von Tuba Rahmann
  • am 23. August 2024

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