Zwischen tauben Ohren und missachtetem Protest

Zwischen tauben Ohren und missachtetem Protest

6. Juli 2023

Sprache und Macht hängen zusammen. Sprache und Identität hängen zusammen. Wer darf sprechen, wer hört wem zu, und wenn rassifizierten Menschen gesagt wird, „Du sprichst aber gut Deutsch“ – was sagt das eigentlich aus? Solchen Fragen geht unser Netzwerkmitglied Rahel in dem sehr interessanten Beitrag nach, den sie über die Bedeutung von Sprache und Sprechen auf ganz verschiedenen Ebenen geschrieben hat.

Deutsch, Arabisch, Französisch und Englisch – all diese Sprachen schwirren um mich herum, während ich meine ersten Erinnerungen sammele. Meine ersten Lebensjahre habe ich nicht in Deutschland verbracht, sondern hauptsächlich im Sudan und in Belgien. Obwohl meine Erinnerungen an die Zeit im sudanesischen Kindergarten zwar nur bruchstückhaft sind, erinnere ich mich dennoch daran, dass wir Kinder keine gemeinsame Sprache hatten, die uns verband. Trotzdem spielten wir zusammen, lachten gemeinsam und schlossen sogar Freundschaften. Wir waren eine Gemeinschaft, die zusammengehörte, obwohl wir linguistisch gesehen nicht zusammenpassten. Deshalb schreibe ich diesen Text: weil zum Gefühl der Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit so viel mehr gehört als nur das Sprechen einer gemeinsamen Sprache.

Das allgegenwärtige Credo in Deutschland ist: Alle Menschen sollen möglichst schnell und gut Deutsch lernen. Im alltäglichen Leben und gesellschaftlichen Miteinander ist eine gemeinsame Sprache natürlich wichtig. Gesellschaftliche Teilhabe und Chancengleichheit setzen auf jeden Fall auch voraus, dass es sprachliche Zugänge gibt. Deswegen sollte jeder Mensch, der in Deutschland lebt, die Möglichkeit bekommen, Deutsch zu lernen. Nur so können alle Menschen gleichberechtigt an dieser Gesellschaft teilhaben. Jedoch wird der Diskurs über das Erlernen der deutschen Sprache heute immer wieder instrumentalisiert und politisiert. Es geht nicht darum, anderen Menschen die Möglichkeit zu geben, Teil dieser Gesellschaft oder einer Gemeinschaft zu werden. Stattdessen geht es darum, sich von „den anderen“ abzugrenzen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder das vermeintliche Kompliment geäußert, das wahrscheinlich alle kennen, nämlich dass rassifizierten Menschen in der Dominanzgesellschaft gesagt wird: „Du sprichst aber gut Deutsch“. Doch: Was bedeutet es, „gut“ Deutsch zu sprechen? Wer entscheidet, wann eine Person eine Sprache, in diesem Fall Deutsch, gut genug sprechen kann?

Wie Sprache und Macht das Zuhören beeinflussen

Es wird offensichtlich, wie Sprache und Macht, beziehungsweise Machtgefälle zusammenhängen: Wer bestimmt, was gelernt wird, wie es gelernt wird und welche Sprachen es wert sind, gut gesprochen zu werden? Ein Positivbeispiel, wie auch aus einem Machtgefälle heraus mit diesen Fragen umgegangen werden kann, durfte ich selbst erleben: Irgendwann in meinem letzten französischsprachigen Kindergarten habe ich einfach aufgehört zu sprechen. Obwohl ich scheinbar nichts sagte, haben meine Eltern mir dennoch zugehört und mich nach sechs Monaten in einen deutschen Kindergarten geschickt. Dort habe ich sofort wieder angefangen zu sprechen. Meine Eltern haben also klar gehört, was ich gesagt habe, obwohl ich gar keine Worte und Sprache verwendete. Doch schauen wir uns unsere Gesellschaft an – Zuhören fällt schwer. Es ist eigentlich egal, ob jemand Deutsch spricht oder nicht, die Dominanzgesellschaft hört nur bedingt oder gar nicht zu.

Schauen wir uns unsere Gesellschaft an – Zuhören fällt schwer. Es ist eigentlich egal, ob jemand Deutsch spricht oder nicht, die Dominanzgesellschaft hört nur bedingt oder gar nicht zu.

Gayatri C. Spivak, Professorin an der Columbia University und Aktivistin für Frauenrechte und Bildung, beschreibt in ihrer Forschung Frauen, denen ihre Handlungsmacht und Selbständigkeit entzogen wird und somit subaltern sind. Sie betont, dass es für diese Frauen nicht nur um das Sprechen und Sprechen-Können geht, sondern auch darum, wer zuhört und was gehört wird. Dabei ist das Zuhören auch hegemonial strukturiert, indem manche Dinge Gehör finden, aber andere systematisch ungehört bleiben, obwohl auch sie laut und deutlich gesagt werden. In ihrer Arbeit fordert sie nach einer größeren Zusammenarbeit zwischen Frauen aus unterschiedlichen sozialen, kulturellen und ökonomischen Hintergründen. Sie betont, dass Frauen unterschiedlicher Herkunft und Erfahrungen gemeinsam kämpfen müssen, um die bestehenden Machtstrukturen und Diskurse zu verändern und eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft zu schaffen.[1]

Von der Kopftuchdebatte bis zum Kampf gegen Rassismus

Egal, ob laut und deutlich gegen Ungerechtigkeiten aufbegehrt wird oder sie mit stummem Protest ertragen werden – die Dominanzgesellschaft hört nicht zu. Ein langanhaltendes und leider immer noch aktuelles Beispiel ist die Kopftuchdebatte in diesem Land, die einer bestimmten Gruppe von Frauen die freie Gestaltung und Umsetzung ihrer Träume und Wünsche systematisch verwehrt, egal wie gut diese Frauen tatsächlich Deutsch sprechen oder auch anderweitig hochqualifiziert sind. Ein anderes Beispiel ist die Unfähigkeit dieser Gesellschaft, Rassismus adäquat anzugehen, den Betroffenen zuzuhören, ihren Forderungen nachzukommen und konsequent aufzuklären. Auch wenn also von Rassismus Betroffene aus Kassel, Köln, München, Hanau – und aus vielen anderen Orten Deutschlands – über Rassismus sprechen und schreiben, hat diese Gesellschaft nur teils zugehört, teils konsequent weggehört oder das Sprechen der Betroffenen überhaupt nicht vernommen.

Gesellschaftliche Debatten über Rassismus erregen nur dann große Aufmerksamkeit, wenn (wieder einmal) eine rassistisch motivierte Gewalttat geschieht. Doch der oberflächliche, mit komplizierter Fachterminologie gespickte Diskurs ebbt nicht nur schnell wieder ab. Er wird auch häufig von einer einseitigen, weißen und patriarchalen Perspektive dominiert. Deshalb ist es wichtig, bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Sprache und Macht auch die so genannte vierte Gewalt nicht zu vergessen: Hier wird entschieden, was gehört wird und vor allem auch, wer gehört wird. In einer Zukunft ohne Rassismus muss die Presselandschaft durch viele Perspektiven belebt werden –- nicht nur in einzelnen Nischen des „anderen“ Journalismus, sondern auch in den großen Leitmedien. Und dann auch nicht mehr nur als Einzelstimme nach einem rassistisch motivierten Verbrechen, sondern in allen Bereichen des Journalismus.

Die Medien spielen aber auch in vielen anderen Themenfeldern eine wichtige Rolle bei der Formung der öffentlichen Meinung. Um eine vielfältige Gesellschaft zu fördern, sollten sie sich öffnen und nicht nur über internationale Krisen berichten, sondern auch über die positiven Aspekte der verschiedenen Kulturen und Sprachen. Indem auch kulturelle Traditionen, kulinarische Besonderheiten und musikalischen Einflüsse anderer Länder und Sprachen Eingang in die deutsche Presselandschaft finden, können Vorurteile abgebaut und das Verständnis für andere Kulturen gestärkt werden. Eine vielfältige Berichterstattung kann somit dazu beitragen, dass sich Menschen mit anderen Kulturen und Sprachen beschäftigen und neugierig werden, diese Themen, zum Beispiel durch das Erlernen einer neuen Fremdsprache, auch in ihren Alltag zu integrieren.

Ich erinnere mich daran, wie ich als Achtjährige in der Schule mit schlimmen Bauchschmerzen nicht zu Hause anrufen konnte, weil ich das Wort "Sekretariat" nicht richtig aussprechen konnte.

Mehrsprachigkeit als Chance verstehen

Wir stellen also immer wieder fest: Sprache bedeutet Macht. Ich erinnere mich daran, wie ich als Achtjährige in der Schule mit schlimmen Bauchschmerzen nicht zu Hause anrufen konnte, weil ich das Wort „Sekretariat“ nicht richtig aussprechen konnte. Meine Lehrerin wusste, was ich meinte, aber es lag in ihrer Hand, ob sie mich verstehen wollte oder nicht. Sprache bedeutet auch Macht, wenn CDU- und AfD-Politiker:innen darüber diskutieren, ob wir eine Deutschpflicht auf Schulhöfen einführen sollten. In diesem Fall haben mächtige Menschen entschieden, Sprachvielfalt nicht als Chance zu nutzen, sondern sie für ihre politische Profilierung zu instrumentalisieren. Selbst wenn man diese Regelung einführen würde, würde die Realität auf den Schulhöfen sie doch gleich wieder ad absurdum führen. Stattdessen müssen Lehrer:innen und alle weiteren Mitarbeitenden in schulischen Angelegenheiten schon in ihrer Ausbildung dazu befähigt werden, konstruktiv wertschätzend mit den Muttersprachen all ihrer Schüler:innen umzugehen und diese im Unterricht sowie auf dem Schulhof im besten Sinne der Schüler:innen zu regulieren und zu fördern.

Die Zahl der Menschen mit mehr als nur einer Muttersprache nimmt jedes Jahr zu. Dem Mikrozensus 2021 vom Statistischen Bundesamt zu Folge sprechen circa 15% der deutschen Bevölkerung neben Deutsch noch eine weitere Muttersprache.[2] Dies sind nicht nur Menschen, die nach Deutschland immigriert sind, sondern größtenteils Menschen, die hier geboren sind – sprachliche Vielfalt gehört also schon längst zu den Identitäten in der deutschen Bevölkerung. Die Personen, die sich gegen diese Sprachenvielfalt wehren beziehungsweise sie sogar negieren, schließen konsequent einen großen Teil der deutschen Bevölkerung aus. Doch genau das, was hier ignoriert wird, kann uns in Zukunft auf sozialer Ebene stärker werden lassen.

Sprache hat die Macht, Träume zu gestalten und Verbindungen zwischen verschiedenen Individuen und Gemeinschaften zu schaffen

Insbesondere für Jugendliche, die sowieso gerade auf der Suche nach ihrer Identität und ihrem Platz in der Gesellschaft sind, kann die Öffnung hin zur Sprachenvielfalt und die Anerkennung von Mehrsprachigkeit ein Gewinn sein. Ich selbst bin Deutsche und Luxemburgerin, habe Französisch und Luxemburgisch aber nie als Muttersprache gelernt. Während man Französisch leicht in der Schule erlernen kann, ist das für kleinere oder auch „fremdere“ Sprachen, wie zum Beispiel Luxemburgisch oder aber auch Türkisch, Arabisch, usw., nicht der Fall. Wenn man Jugendlichen nun aber mehr Freiräume für das Ausprobieren von Identitäten, zu denen auch zwingend Sprache und Sprechen gehört, gäbe, würde es vielen Jugendlichen wahrscheinlich leichter fallen, sich selbst und den eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden. Die Öffnung des Sprachunterrichts in Schulen durch zum Beispiel digitale Klassenräume, bilinguale Abschlüsse in Kooperation mit anderen Ländern oder auch der Anerkennung von weiteren sprachlichen Fähigkeiten, die man nicht in der Schule erlernt hat, aber dennoch besitzt, auf dem (Abschluss-)Zeugnis, hilft letztendlich nicht nur Jugendlichen mit mehr als einer Muttersprache, sondern kann auch als Chance für alle Kinder und Jugendlichen verstanden werden. Sprachliche Vielfalt bietet die Möglichkeit, kulturelle Unterschiede nicht nur zu erkennen, sondern auch schätzen zu lernen. Sprachliche Vielfalt kann also der Anstoß sein für mehr kulturellen Austausch und eine diskriminierungsärmere Zukunft.

Ich stelle mir vor, wie mein Leben sich entwickelt hätte, wenn die gesamte Gesellschaft in Deutschland sprachliche Vielfalt so wertgeschätzt und gefördert hätte, wie es in diesem Kindergarten im Sudan der Fall gewesen ist. Sprache ist ein wichtiges Kommunikationsinstrument im Alltag, aber sie hat auch die Macht, Träume zu gestalten und Verbindungen zwischen verschiedenen Individuen und Gemeinschaften zu schaffen. Es ist nicht eine Sprache, die Träume gestaltet und Verbindungen schafft – sondern ganz viele Sprachen oder Wörter, die eine gemeinsame Sprache bereichern, lebendig werden lassen. Die Worte der Journalistin und Autorin Kübra Gümüsay beschreiben es sehr treffend: “Nicht jeder Mensch kann in der Sprache, die er spricht, sein. Nicht etwa, weil er die Sprache nicht ausreichend beherrscht, sondern weil die Sprache nicht ausreicht.”[3]  So nennen meine Geschwister und ich unsere Mutter zum Beispiel „Maman“ aus dem Französischen oder unsere Großeltern „Boma“ und „Bopa“ aus dem Luxemburgischen, weil an diesen Wörtern mehr Emotionen und Erinnerungen hängen, als wir sie im Deutschen jemals ausdrücken könnten. Analog dazu gebrauchen auch andere Jugendliche oder auch erwachsene Menschen Begriffe aus der Familiensprache, wie zum Beispiel „Baba“ für Vater im Arabischen oder auch „Anne“ für Mutter im Türkischen. Das heißt, um Zukunft zu gestalten, ist es grundlegend, die sprachlichen Wahrheiten jedes Einzelnen in unsere Sprache aufzunehmen und Platz zu schaffen für neue Wörter und Bedeutungen. Wenn uns dies gelingt, können wir als Individuen und als Gesellschaft zusammen wachsen.

[1] Spivak, Gayatri C.: Can the Subaltern Speak?, In: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Chicago: University of Illinois Press, 1988, S. 271-313.
[2] Destatis. (2023, 21. Februar). Zahl der Woche: 80 % der Bevölkerung sprechen zu Hause ausschließlich Deutsch. Pressemitteilung. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2023/PD23_08_p002.html
[3] Gümüsay, Kübra: Sprache und Macht: Wie sie uns prägt und warum wir sie verändern müssen, Klett-Cotta Verlag, 2019, S. 21.

Der Beitrag ist im Rahmen des Fellowships zu den JIK Talks 2023 entstanden.

#empowerment #rassismus #zugehörigkeit

  • von Rahel Ladwig
  • am 6. Juli 2023

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