Unser aller Garten | Blüten der Selbstliebe

Unser aller Garten | Blüten der Selbstliebe

21. Juni 2024

Wie liebst du dich selbst? Mit dieser Frage hat sich Netzwerkmitglied und Autorin Hilal Buket Yalcin auf den Weg gemacht. Getroffen hat sie eine Sängerin, eine Tattookünstlerin und ihre eigene Mutter, die das Gärtnern liebt. Sie haben alle etwas gemein: Sie sind marginalisiert und trotzdem, oder genau deswegen, halten sie an ihrer Leidenschaft fest – als ein Akt der Selbstliebe.

Lubna Marina Javed
Lubna Marina Javed
© Hilal Buket Yalcin
Inès Knothe
Inès Knothe
© Hilal Buket Yalcin

Ich sitze im grün bewachsenen Garten meiner Mutter, als sich meine Aufmerksamkeit auf die liebevolle Gestaltung des Gartens richtet. Die zarten Blüten der Pflanzen strecken sich in die Höhe, grüne Blätter neigen sich. Sonnenblumen wenden sich der Sonne zu, empfangen das warme Sonnenlicht, und stark duftende rote Rosen versprühen eine wundervolle Note.

Meine Mutter steckt bewusst viel Zeit in diesen Ort – ihren Wohlfühlort. Sie ist am liebsten umgeben von Blumen und ihren Kindern. Früher habe ich mich gefragt, warum sie immer so viel Zeit im Garten verbringt. Sie sagte mal, dass es für sie eine Art von Therapie sei, dass es ihr guttun würde, die Erde zwischen ihren Fingern zu spüren. Damals habe ich die tiefer liegende Bedeutung hinter diesen Worten noch nicht begreifen können. Heute verstehe ich, dass die Natur heilend für sie ist. Durch die Schönheit und Stärke der Natur erkennt und findet sie ihre eigene Schönheit und Stärke wieder.

Selbstliebe als Akt der Befreiung

Jeder Mensch geht auf seine eigene Weise mit Schmerz um und jeder Mensch hat das Recht darauf, den Schmerz verarbeiten zu können, ohne dafür verurteilt zu werden. Eine Form, die schmerzhaften Erfahrungen zu verarbeiten, ist es, sich in Selbstliebe und Akzeptanz zu üben.

Für marginalisierte Menschen kann Selbstliebe eine transformative Kraft sein

Selbstliebe kann helfen, traumatische Erfahrungen, tiefe emotionale Wunden, Frustration, Wut und Schmerz, die beispielsweise durch Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen entstanden sind, besser zu bewältigen. Sie kann helfen, eine positive und mitfühlende Beziehung zu sich selbst aufzubauen und sich selbst so anzunehmen, wie man ist. Eigene Bedürfnisse anzuerkennen und Grenzen zu setzen, um ein gesundes Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen aufzubauen und die Selbstachtung zu festigen.

Für marginalisierte Menschen kann Selbstliebe eine transformative Kraft sein, wenn man die Liebe beispielsweise in Kreativität fließen lässt. Viele Menschen finden und stärken ihre Selbstliebe in kreativen Ausdrucksformen. Kreativität kann ihnen einen Raum bieten, ihre Erfahrungen, Gefühle und Ideen auszudrücken und sich in einer von Dominanzkulturen geprägten Welt Gehör zu verschaffen.

Wie Musik weit in die Tiefen der Seele vordringt

Die Düsseldorfer Künstlerin Lubna Marina Javed, auch bekannt unter ihrem Künstlerinnenname Ayatarah, macht genau das. Für Lubna ist das Singen eine große Leidenschaft und eine Bereicherung für ihr Leben. Schon als Kind war diese Kunstform für sie eine Möglichkeit, sich selbst ausdrücken zu können.

Zu ihren größten Inspirationsquellen zählt Lubna ihre afghanisch-pakistanische Herkunft und ihre Mutter

Es breitet sich ein großes und warmes Grinsen in meinem Gesicht aus, als Lubna davon erzählt, wie gerne sie ihrer Mutter beim Singen von Bollywoodliedern zuhört. Wir stellen fest, dass wir beide mit Bollywoodfilmen aus den 1990er-Jahren aufgewachsen sind, und mir wird bewusst, was für eine verbindende Kraft Musik haben kann. Wenn Lubna singt, hat sie das Gefühl, wie in Trance zu sein. Je mehr sie sich darauf einlässt, desto tiefer fühlt sie die Musik. Zu ihren größten Inspirationsquellen zählt sie zum einen ihre afghanisch-pakistanische Herkunft und ihre Mutter. „Ich breche Kreisläufe, aber das hat meine Mutter auch schon gemacht, und das waren aber einfach andere Kreisläufe, und ich glaube, das ist so eine der Sachen, die mich extrem inspiriert.“

Und zum anderen schöpft sie sehr viel Kraft aus sich selbst. „Es inspiriert mich auch, dass das, was ich sehe, nur das ist, was ich sehe, und dass das keiner genauso sehen kann, egal, wie ähnlich man einer Person ist.“ Die Gesangslehrerin ist überzeugt, dass Musik ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihr eigenes Leben lebt und verschiedene Menschen auf unterschiedliche Art und Weise erreichen kann.

Durch die Musik findet Lubna zur Stärke. Gleichzeitig möchte sie aber auch, im Bewusstsein darüber, wie viel ihre Mutter für sie und ihre Geschwister aufgeopfert hat, ihrer Familie und den Menschen, die ihre Erfahrungen teilen, etwas zurückgeben. Ihre Motivation liegt in der Kreation eines Raums, auf den Menschen zugreifen können, „weil ich weiß, wie viel mir Musik gegeben hat, als junges Mädchen, als erwachsene Frau, und wie viel mir das noch geben wird in meinem Leben“. Dieser Prozess spiegelt sich auch in ihrer Musik und in ihren Texten wider. „Für mich hat das auf jeden Fall etwas mit Selbstliebe zu tun.“

Die afroamerikanische Autorin, Feministin und Aktivistin Audre Lorde beschreibt Selbstliebe als Selbsterhalt und Selbstfürsorge als einen Akt des Widerstands. Die Selbstliebe ermögliche es marginalisierten Menschen, sich zu schützen, zu stärken und zu unterstützen. Sie sah in ihr einen radikalen Akt der Befreiung. So können nach Lorde Menschen trotz der Unterdrückung ihre Identitäten, Bedürfnisse und Stimmen respektieren und zelebrieren und somit sich ihr widersetzen.

Wie eine indigene Tattootradition wieder aufblüht

Inès Knothe aus Wuppertal praktiziert Selbstliebe, indem sie tätowiert. Wir sitzen gerade in einem gemütlichen Café, als mir Inès voller Begeisterung verschiedene Tattoos auf ihrer Wade zeigt. Dabei handelt es sich um ganz bestimmte Tattoos. Es sind Tattoos, die Inès selbst gestochen hat. Ähnliche Motive verzierten auch die Körper ihrer Urgroßmütter. Es sind Tattoos, die in der indigenen Bevölkerung Marokkos, der Imazighen, eine lange Tradition haben. Eine Tradition, die im Zuge des Kolonialismus immer mehr verdrängt wurde. Wenn Inès tätowiert, verspürt sie eine gewisse Ehrfurcht vor ihren Vorfahren und eine tiefe emotionale Verbundenheit zu ihnen. Sie möchte die Tradition wieder aufleben lassen, „weil es ein Teil von mir […] und meiner Familiengeschichte“ ist, erzählt Inès.

Die Auseinandersetzung hat Inès geholfen zu verstehen, wer sie ist, wer sie sein kann und wer sie nicht ist

Das Tätowieren und das Wissen über die indigene Tattootradition hat sich Inès bewusst durch Konversationen mit Menschen in ihrem Umfeld angeeignet. Sie möchte die Tradition aus einer dekolonialen Perspektive aufarbeiten. Die Auseinandersetzung hat Inès geholfen zu verstehen, wer sie ist, wer sie sein kann und wer sie nicht ist. Zu ihrer größten Inspirationsquelle zählt Inès die FLINTA* ihrer Community. Insbesondere ihre Mutter, die nach Deutschland migriert ist, spielt auch in Inès’ Leben eine sehr bestärkende Rolle.

Inès versteht Selbstliebe als etwas Politisches und Heilung als einen essenziellen Bestandteil von Selbstliebe. Menschen mit Rassismuserfahrungen seien Traumata anders ausgesetzt und hätten dadurch einen anderen Zugang zu Selbstliebe, und die kommerzielle Definition von Selbstliebe funktioniere für sie nicht. „Menschen wie wir müssen Dinge einfach ganz anders aufarbeiten, damit wir uns überhaupt akzeptieren können in einer Gesellschaft, die uns sagt, dass wir nicht genug sind, dass wir nie genug sind.“

Wenn Inès eine Person aus ihrer Community tätowiert, hat sie das Gefühl, dass sich eine Energie im Raum ausbreitet und sie eine Revolution starten würden. „Ich sehe, wie bedeutend das für Menschen ist, die zu mir kommen und sich das dann tätowieren. Es ist auf jeden Fall ein Akt der Selbstliebe und ein Akt des Widerstands“, so Inès.

Warum Selbstliebe politisch ist

Ich sitze auf meinem Balkon und beobachte, wie die Äste verschiedener Bäume im Gemeinschaftsgarten ineinandergreifen. Ich höre das Rascheln der Blätter, da wird mir bewusst, wie viel Kraft marginalisierte Menschen – trotz schmerzhafter Erfahrungen – aus sich schöpfen. Ich schreibe über dieses Thema, weil Schreiben für mich eine persönliche Form des Widerstands ist. Es ist meine kreative Ausdrucksform. Wie das Gärtnern für meine Mutter, das Singen für Lubna, das Tätowieren für Inès.

Der Schreibprozess hilft mir, meine Erfahrungen zu verstehen, zu verarbeiten und zu akzeptieren. Ich schreibe aber auch für Menschen, die meine Erfahrungen teilen. Ich will sie wissen lassen, dass sie nicht allein sind. Der Prozess des Schaffens ist befreiend. Selbstliebe ist Selbstfürsorge und Selbstakzeptanz. Selbstliebe ermächtigt dazu, Räume für unsere Geschichten zu schaffen. Sie führt dazu, eigene Fähigkeiten zu erkennen und sie zu entfalten. Selbstliebe lässt einen träumen – von einer besseren Zukunft. Letztlich ist Selbstliebe auch politisch, weil sie eine transformative Kraft besitzt. Sie kann in einem selbst und in der Gesellschaft Veränderungen antreiben. Selbstliebe ist Macht.

„Anyone who is interested in making change in the world, also has to learn how to take care of herself, himself, theirselves. […] It means that we are able to bring our entire selves into the movement. […] It means a holistic approach.“ – Angela Davis (Afropunk Festival, 2018)

* Das Akronym FLINTA* steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nichtbinäre, trans und
agender Personen

Der Beitrag ist im Printmagazin ‚bittersüß‘ der JIK Medienakademie 2023 erschienen. 

#empowerment

  • von Hilal Buket Yalcin
  • am 21. Juni 2024

Diesen Artikel teilen