Reisen mit Gepäck – Wie es ist, als Person of Colour zu verreisen
Reisen mit Gepäck – Wie es ist, als Person of Colour zu verreisen
4. August 2022
Zwischen Unsicherheit, finanziellen Sorgen und rassistischen Begegnungen: wenn das Reisen als Person of Colour mehr Stress als Erholung bedeutet. Samet Besyaprak teilt für uns seine Erfahrungen rund um das Reisen und erzählt voller Vorfreude von seiner Teilnahme an der „meet!“ Tour 2022, einem Projekt der Stiftung Mercator.
Ich kann mich noch sehr gut an all die Diskussionen mit meiner Mutter erinnern, in denen ich versucht habe, sie davon zu überzeugen, wie wichtig es für mich ist, andere Länder zu bereisen. Viele von meinen migrantisch-gelesenen Freund*innen haben ähnliche Gespräche mit ihren Eltern geführt.
Ich bin Samet Besyaprak, 21 Jahre alt und einer der glücklichen Teilnehmer*innen der meet!- Mercator Europa Tour 2022, welche von der Stiftung Mercator organisiert wird und jungen Menschen aus Nordrhein-Westfalen die Möglichkeit bietet, Europa zu entdecken. Dieses Jahr sind Aufenthalte in Zürich, Genf, Berlin und Brüssel geplant. Zusätzlich werde ich innerhalb einer zweitägigen Hospitation im Goethe-Institut in Brüssel erste Berufserfahrungen sammeln können. Die diesjährige Reise ist für mich etwas ganz Besonderes. Sozusagen ein Wendepunkt in meinem Leben. Zum ersten Mal bereise ich europäische Länder und trete dabei in Kontakt mit Politiker*innen und internationalen Organisationen, wie beispielsweise den Vereinten Nationen. Das Thema Reisen war mir immer besonders wichtig, da meine Familie und ich aufgrund unserer sozio-ökonomischen Situation nur selten reisen konnten. Bislang beschränkten sich meine Reiseerfahrungen daher auf die Türkei, die Heimat meiner Eltern. Dabei wünsche ich mir seitdem ich klein bin, Europa zu bereisen und die verschiedenen Kulturen im ‘bunten’ Europa aus unmittelbarer Nähe kennenzulernen.
Sehnsuchtsort
Meine Mutter teilte diesen Wunsch leider nicht. Sie sagte mir damals: „Oğlum (dt. mein Sohn), ich konnte noch nicht genug von meiner eigenen Heimat sehen, deshalb hatte ich nie den Drang, in andere Länder zu verreisen.“ Ich hatte damals die Sehnsucht nach der Türkei, die meine Mutter mit ihren Worten ausdrückte, nicht verstanden. Die Türkei ist für meine Mutter und für ganz viele andere türkischstämmige Personen, der Ort, an dem sie sich am vollkommensten fühlen, sich als Teil der Gesellschaft wahrnehmen. Dieses Gefühl war für mich und viele meine*r Freund*innen mit Migrationsgeschichte nicht greifbar, da wir zwischen zwei Kulturen aufgewachsen sind und in dem einen Moment eine Nähe zu der einen und im nächsten Moment zu der anderen Kultur verspüren. Während der Türkei-Urlaube mit meiner Mutter habe ich allerdings verstanden, woher ihre Sehnsucht kommt. In der Türkei war sie immer wie ausgewechselt. Sie war glücklich die Sprache zu sprechen und Gerichte zu Essen, mit denen sie aufgewachsen war. All das hat sie ein Stück zurück in ihre Kindheit versetzt. Am stärksten ist mir allerdings aufgefallen, dass sie in ihrem Herkunftsland das Privileg des Unsichtbar-seins genießt. Wenn sie dort draußen in einem Café sitzt, sind nicht viele urteilende Augen auf sie gerichtet. Sie ist einfach eine von Vielen, was sie in Deutschland nie sein konnte.
Pittoreske Dörfer? Meide ich.
Reisen innerhalb Deutschlands und Europa ist für mich und für ganz viele rassifizierte Personen, nicht die Erholung von dem stressigen Alltag, welche wir uns erhoffen. Das habe ich früh verstanden. Nicht zuletzt an den Unterschieden in den Urlaubsplanungen innerhalb meiner eigenen Freund*innengruppe. Für BIPoCs ist eine Reise vorab mit einer intensiven online-Recherche und viel Austausch mit Freund*innen verbunden. Darüber welche Urlaubsziele, Restaurants und Bars vor Ort sicher sind und welche gegebenenfalls lieber gemieden werden sollten. Die kleinen atemberaubenden Dörfer in Deutschland, die man viel auf Instagram und Co. bewundert, sind für BIPoCs oft nicht auf die gleiche unbeschwerte Weise zugänglich, wie für weiße Personen. Ich habe selbst schon die Erfahrung machen müssen, dass rassistische Konfrontationen einem eine ganze Reise verderben können. Ich meide bestimmte Orte in Deutschland deshalb ganz bewusst und bevorzuge Großstädte mit mehr gesellschaftlicher Diversität, um das Risiko für mich möglichst gering zu halten. Solche Übergriffe bedeuten für mich nämlich eine große emotionale Belastung und zahlreiche Gespräche mit Freund*innen, um diese Erfahrungen aufzuarbeiten.
Dabei gehöre ich unter uns BIPoCs schon zu der Gruppe, die sich freier im öffentlichen Raum bewegen kann. Ich falle unter die „Kategorie“ white-passing. Das bedeutet, ich werde auf den ersten Blick nicht migrantisch gelesen. Dadurch mache ich andere Erfahrungen auf Reisen als einige meiner Freund*innen, die auf den ersten Blick migrantisch gelesen werden. Weiße-Privilegien spielen auf Reisen immer eine große Rolle und können auf Mitreisende projiziert werden und dazu führen, dass BIPoCs in „weißer Begleitung“ anders wahrgenommen werden, als wenn sie alleine wären. White-passing bietet mir somit die Möglichkeit unbeschwerter als andere BIPoCs zu reisen. Gleichzeitig bedeutet mein White-passing für mich sowohl in der Türkei durch mein europäisches Aussehen, als auch in Deutschland, durch meine deutsch-türkische Sozialisation und meinen Sprachgebrauch, auf Misstrauen und Ablehnung durch weiße Personen und BIPoCs zu stoßen. Auf der einen Seite werde ich in der Türkei auf Anhieb als „Almanci“ entlarvt, welcher ein abwertender Begriff für in Deutschland lebende türkeistämmige Menschen ist und auf der anderen Seite stehe ich in Deutschland unter dem konstanten Druck mein Deutschsein unter Beweis stellen zu müssen. Einen Großteil meines Lebens suchte ich aus diesem Grund auf Reisen nicht nur nach schönen Orten, sondern auch nach dem Gefühl angekommen zu sein. Ich suchte einen Ort, den ich Heimat nennen konnte
Durch all die zusätzlichen Aspekte, die BIPoCs vor einer Reise bedenken müssen, ist die Reiseplanung emotional strapazierender. Und dabei konnte ich noch auf den finanziellen Aspekt des Reisens gar nicht eingehen. Reisen muss man sich erst leisten können. Auch hier sind Menschen aus migrantisierten Familien überproportional unterprivilegiert. Auch deswegen bin ich dankbar für Programme wie der meet!-Mercator Europa Tour, welche jungen Menschen die Möglichkeit bieten, finanziell unbeschwert und sicher zu reisen und die internationale Zusammenarbeit in Europa live zu erleben.
#begegnung #familie #rassismus
- von Samet Besyaprak
- am 4. August 2022