Polizeigewalt und Wissenschaft.

Polizeigewalt und Wissenschaft. Zur Legitimation rassistischer Polizeirazzien im Umfeld von sogenannter Clan-Kriminalität

27. Juli 2023

Es reicht ein schneller Blick in die Zeitung, Bestsellerregale oder die ARD-Mediathek und schnell wird klar: Das Thema sogenannter Clan-Kriminalität beschäftigt Politik, Medien und Polizei. Dabei ist die Rede von spektakulären Raubüberfällen, staatlichen Enteignungen oder groß angelegten Razzien in Shisha-Bars. Insbesondere konservative Kräfte und die Polizei bedienen die Erzählung schwerer, organisierter Kriminalität im Clan-Milieu.

Im jüngsten Versuch der Behörden, dem Problem vermeintlich steigender Kriminalitätszahlen Herr zu werden (Stichwort „Politik der tausend Nadelstiche“), werden rechtsstaatliche Grenzen aufgeweicht, es kommt zu täglichen Repressionen gegen migrantisch markierte Menschen und racial profiling ist tägliche Routine.
Dadurch wird migrantisches und insbesondere muslimisches Leben in Deutschland kriminalisiert und migrantisch gelesene Räume als Ziele rechter Gewaltakte markiert. Dies zeigt sich im rechtsterroristischen Anschlag in Hanau, wo den Ermordeten

Gökhan Gültekin | Sedat Gürbüz | Said Nesar Hashemi | Mercedes Kierpacz | Hamza Kurtović | Vili Viorel Păun | Fatih Saraçoğlu | Ferhat Unvar | Kaloyan Velkov

der Notausgang in der Shisha-Bar aufgrund einer polizeilichen Anordnung versperrt blieb. All diese Entwicklungen vollziehen sich nicht in einem luftleeren Raum. Vielmehr bauen sie auf rassistischem Wissen und Denken auf, das von Menschen und Institutionen erzeugt, wiederholt und erneuert wird. Zivilgesellschaftliche Akteur:innen wie die „Initiative 19. Februar Hanau“ oder „Kein Generalverdacht“ prangern diese Zustände öffentlich an. Dieser Blogbeitrag basiert auf Erkenntnissen eines Forschungsprojekts, in dessen Rahmen wir Expert:innen-Interviews mit Aktivist:innen, die sich gegen (antimuslimischen) Rassismus und Polizeigewalt engagieren, geführt haben. Dabei haben wir uns mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit die rassistische Praxis der polizeilichen Arbeit die Clan-markierten Anderen und den angeblich kriminellen Raum der Shisha-Bar produziert. Ein Ergebnis der Forschung ist, dass die Herstellung von vermeintlichem Wissen über Clan-Familien eine wichtige Rolle in der Diskussion um Kriminalitätsbekämpfung einnimmt.

Wissen schafft Macht.  

Mit der Schaffung und Verbreitung von Wissen geht Macht einher, manchmal auch Gewalt. Diese Gewalt ist in eine kolonial-rassistische Vergangenheit und gesellschaftliche Gegenwart eingebettet. Im Kontext der Debatten um sogenannte Clan-Kriminalität lohnt es sich, die Institutionen, die in dem Feld zentral Wissen schaffen und verbreiten, näher zu betrachten: Wissenschaft und Medien. Die Kriminologin Dorothee Dienstbühl wird dabei von unseren Interviewpartner:innen als treibende wissenschaftliche Figur identifiziert. Daher lohnt sich ein Blick in die von ihr 2020 veröffentlichte polizeiliche Handreichung „Arabische Familienclans – Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung“.

Mit der Schaffung und Verbreitung von Wissen geht Macht einher, manchmal auch Gewalt.

Dort heißt es direkt in der Einführung:
Im Nachfolgenden handelt es sich um eine notwendige Kollektivbetrachtung, die sich auf Mitglieder von Familienclans mit krimineller Neigung bezieht. Natürlich sind keineswegs alle Mitglieder, die einem Clan zuzuordnen sind, kriminell. Auf eine stetige Abgrenzung zwischen Clanmitgliedern, die kriminell in Erscheinung getreten und solchen, die es nicht sind, muss an dieser Stelle verzichtet werden. Zum einen, weil grundlegende Denkmuster häufig auch bei Familienmitgliedern verankert sind, die nicht kriminell auffällig sind und zum anderen weil auch bei Kenntnis über Kriminalität einzelner Familienmitglieder der Rest schweigt. [1]

Anstatt zu differenzieren, legitimiert das Handbuch den pauschalen Generalverdacht und die damit einhergehende Stigmatisierung ganzer Familien. Es wird deutlich, dass Kriminalität hier als Wesensart der Menschen und damit als naturgegeben angesehen wird. Dadurch werden Menschen entlang von Kategorien rassifiziert; die vermeintlich Anderen werden als eine gleichartige Einheit gegenüber dem vermeintlich Eigenen abgewertet. Das als Clan-kriminell gelabelte Andere wird in dem „islamischen Kulturkreis“ verortet. In diesem abgegrenzten Raum würden die Familien nach „Prinzipien [leben], die hunderte Jahre alt [seien]“.[2]  Diese rassistische Konstruktion krimineller Clans verweist ganze Gruppen auf den Ort des Kriminellen.
Anstatt zu differenzieren und auf strukturelle Kontexte einzelner Straftaten zu schauen, wird in einem späteren Abschnitt daran appelliert herauszufinden, „was die Ehre des Anderen verletzt, [denn dies] ist eine vom Stammeswesen übernommene Kriegsstrategie“.[3]  Die Gegenüberstellung des vermeintlich entwickelten, modernen Staates und des kriegerischen, weniger entwickelten Stammes hat dezidiert kolonial-rassistische Anklänge und reiht sich in orientalisierende Diskurse ein. Die Broschüre gibt zwei Vorschläge zur sogenannten Ehrverletzung: Reizfaktoren für Clan-Mitglieder seien Hunde und weibliche Polizeibeamtinnen. Das angebliche Rollenverständnis vermeintlicher Clan-Mitglieder würde die Frau dem Mann unterordnen und somit würde eine Frau in Uniform „dem gelebten Weltbild der Clans diametral gegenüberstehen“.[4]  Diese Ansicht reiht sich in eine rassistische „Beschuldigung der Muslim_innen als sexistisches Kollektiv [ein]“. [5]  Damit wird patriarchale Gewalt bei dem zuvor konstruierten Anderen im Außen verortet und mit vermeintlich kulturellen Verhaltensweisen in Verbindung gebracht. Als Wissenschaftlerin hat Dorothee Dienstbühl eine erhebliche Definitionsmacht. Mit der Erzählung von einer Gefahr, die vermeintlich von Clan-Familien ausgeht, versucht sie die Mobilisierung der Polizei hinein in migrantische Räume wie die Shisha-Bar zu legitimieren. Die Broschüre wurde zwar stark kritisiert, dennoch gilt sie bis heute als Werkzeug für polizeiliche Einsätze und spiegelt den aktuellen sicherheitspolitischen Diskurs auf dem Gebiet wider.

journalistische Recherche muss von der „Unschuldsvermutung“ geleitet und nicht von „bloßem Sensationsinteresse“ bestimmt sein.

Mediale Inszenierung.  

Zudem sind die Medien ein wichtiges Bindeglied zwischen den Interessen von Regierung, Polizei und Gesellschaft. Über die gezielte Mobilisierung der Medien würden Ereignisse wie die groß angelegten Razzien in Shisha-Bars als „große[s] Spektakel“ inszeniert, so die Expert:innen in unseren Interviews. Und weiter, diese „gezielte Öffentlichmachung“ würde erst die Angst in der Gesellschaft schüren und das Eindringen des staatlichen, polizeilichen und dezidiert „weiß[en] Blick[es]“ in den Raum der Shisha-Bar rechtfertigen. Mit dem Mord an Nidal R. auf dem Tempelhofer Feld in Berlin 2018 rückte das Thema der Clan-Kriminalität verstärkt in den medialen Fokus. An dem Anstieg der veröffentlichten Artikel im Oktober 2018 lässt sich außerdem ein Hinweis auf die Rolle der Medien im Kontext der Großrazzien ableiten: Sie schaffen mit der breiten medialen (Re)Produktion des Themas der Clan-Kriminalität die Bühne, auf dem Politiker:innen, die Polizei und Akteur:innen wie Dienstbühl sich in Szene setzen können. Hinzu kommt eine ethische Verschiebung im Rahmen des Pressekodex. Dieser regelt, dass „[d]ie Achtung vor der Wahrheit [und] die Wahrung der Menschenwürde“ und der Schutz vor Diskriminierung oberste Priorität haben. Um dies zu gewährleisten, muss die journalistische Recherche von der „Unschuldsvermutung“ geleitet und nicht von „bloße[m] Sensationsinteresse[]“ bestimmt sein.[6]  Dieser Diskriminierungsschutz führte bei Journalist:innen zu Unsicherheiten, ob die Herkunft potentieller Straftäter:innen genannt werden dürfte oder nicht. Zur Klärung sollte der 2017 ergänzte Leitsatz beitragen, der eine verantwortungsvolle Abwägung im Einzelfall empfahl. Zu den Gründen, die für eine Nennung des Hintergrunds einer tatverdächtigen oder straffälligen Person sprechen, gehört das folgende Beispiel: „Besondere Clan-Strukturen ermöglichen erst die Begehung von Straftaten (Ehrenkodex, Schweigeverpflichtungen, Solidaritätszwang usw.)“. Diese Ergänzung gab der journalistischen Arbeit in den letzten Jahren die legitime Basis, ganze Familien unter Generalverdacht zu stellen, auch wenn nur einzelne Familienmitglieder Straftaten begehen bzw. unter Tatverdacht stehen.

Bürger:innenrechte von migrantisch gelesenen Personen werden hier strukturell ausgehebelt

Folgen rassistischer Wissensformation.  

Inzwischen ist der „Kampf gegen die Clans“ von regelmäßigen Polizeirazzien in Shisha-Bars und anderen als muslimisch markierten Lebensräumen geprägt. Entgegen der polizeilichen und medialen Erzählungen von organisierter Kriminalität werden dabei vor allem unverzollter Shisha-Tabak oder Verstöße gegen Brand- und Jugendschutz festgestellt.[7]
Das sind zwar Ordnungswidrigkeiten, Verstöße gegen Gewerbeauflagen oder in seltenen Fällen kleinere Straftaten, aber sicherlich ist all das weit entfernt von den herkömmlichen Vorstellungen organisierter Kriminalität. Spätestens damit sind dann auch die demütigende und mediale Begleitung, die schwere Bewaffnung, die verdachtsunabhängigen Kontrollen von rassifizierten Gästen sowie das teilweise Absperren ganzer Stadtteile während entsprechender Polizeirazzien völlig unverhältnismäßig und verfassungswidrig. Schließlich werden grundlegende Bürger:innenrechte von migrantisch gelesenen Personen wie die Unschuldsvermutung oder die körperliche Unversehrtheit hier strukturell ausgehebelt.
Dennoch kommt es zu keinem Aufschrei in der weißen Dominanzgesellschaft. Zum einen genießt die Polizei in Deutschland ein nahezu unverändert hohes Vertrauen in diesen Teilen der Bevölkerung. Zum anderen gewährleisten die rassistischen Bilder und Erzählungen, die in Wissenschaft und Medien erzeugt werden, eine Legitimation, gegen diese Anderen Gruppen polizeilich vorzugehen, da sie die Wahrnehmung ganzer Stadtteile und Bevölkerungsgruppen prägen.
Dabei bedienen sie einen strukturellen Rassismus, den wir alle – inklusive der beiden weißen Autor:innen dieses Textes – jeden Tag weiter verlernen und bekämpfen müssen. Fordern wir diese dominanten, rassistischen Strukturen nicht heraus, dann überlassen wir das Feld der Polizei, die weiter ihre Kontrollbefugnisse über migrantische Körper ausweiten und ihre Aufgabe zunehmend als „Umerziehungsprozess“ verstehen wird. [8]

[1]Dienstbühl und Richter 2020, 4.
[2]Dienstbühl und Richter 2020, 4
[3] Dienstbühl und Richter 2020, 12
[4]Dienstbühl und Richter 2020, 14
[5]Shooman 2016, 10
[6]Pressekodex: https://www.presserat.de/pressekodex.html.
[7]Feltes und Rauls 2020, S. 374.
[8]Dienstbühl und Richter 2020, S. 18)

Literatur: 
  
Al-Zein, Mahmoud (2020): Der Pate von Berlin: Mein Weg, meine Familie, meine Regeln. München: Droemer Knaur. 
Attia, Iman (2012): Privilegien sichern, nationale Identität revitalisieren. In:Journal für Psychologie 21 (1). Online verfügbar unter https://journal-fuer-psychologie.de/article/view/258, zuletzt geprüft am 05.03.2022. 
Dienstbühl, Dorothee; Richter, Frank (2020): Arabische Familienclans – Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung. In:Polizei Essen – BAO Aktionsplan CLAN. 
Feltes, Thomas; Rauls, Felix (2020): „Clankriminalität“ und die „German Angst“. In:Sozial Extra 44 (6), S. 372–377. DOI: 10.1007/s12054-020-00332-0. 
Shooman, Yasemin (2016): Antimuslimischer Rassismus – Ursachen und Erscheinungsformen. Hg. v. Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA). Düsseldorf. Online verfügbar unter https://www.vielfalt-mediathek.de/wp-content/uploads/2020/12/expertise_antimuslimischer_rassismus_ida.pdf, zuletzt geprüft am 01.03.2022.

#rassismus #wissenschaft

  • von Maraike Henschel und Joschka Dreher
  • am 27. Juli 2023

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