Nie wieder Srebrenica
Nie wieder Srebrenica
10. Juli 2020
Irgendwie war es mein Schicksal nach Bosnien zu gehen. Vor meinem Auslandsjahr hatte ich mich nie mit diesem Land auseinandergesetzt. Als mein Wunschort aber nicht funktionierte, musste ich eine Alternative suchen. Ich wollte in Europa bleiben. Aber, da ich selbst aus Berlin komme, wollte ich in meinem Auslandsjahr die Chance nutzen, auch eine andere Seite von Europa kennenzulernen. Dann kam mir Bosnien in den Sinn. Bosnien gehört zu den wenigen Ländern in Europa, die muslimisch geprägt sind. Ich als Muslima hatte noch nie an so einem Ort gelebt, sondern gehörte mein Leben lang zu einer Minderheit. So kam es, dass ich in Sarajevo an einer türkisch geprägten Universität studierte. Ich hatte bereits eine Liste mit Orten erstellt, die ich besuchen wollte: Travnik, Mostar und Srebenica.
An einem Abend saß ich dann in einem Restaurant, neben mir ein paar Bekannte. Wir diskutierten, wie wir am besten nach Srebenica kommen würden. Um uns herum wurde es schlagartig still. Aber wir waren so sehr in die Diskussion vertieft, dass wir das nicht bemerkten. Als der Kellner uns das Essen brachte, kam einer meiner Begleiter auf den Gedanken ihn nach dem Weg zu fragen. Der Kellner wurde in dem Moment stocksteif und ihm fiel das ganze Geschirr runter. Er fing an zu weinen. Seine Kollegen kamen, um ihn zu trösten und meine Begleitung war ganz irritiert. Wir wussten nicht, warum dieser erwachsene Mann dastand und weinte, bis sein Chef kam. Er erklärte uns freundlich auf Türkisch: „Das tut mir leid, das konnten sie nicht wissen, aber seine Familie kommt aus der Nähe von Srebenica. Seine Eltern sind bei dem Massaker 1995 gestorben.“
Der Genozid an den Bosniaken
Da verstand ich es. In Bosnien ist der Krieg noch allgegenwärtig. Die Wunden sind noch nicht geheilt. Ich hatte in der Schule nie über den Genozid in Bosnien gehört, obwohl ich Geschichte im Leistungskurs belegte. In Deutschland wird der Genozid an den Bosniaken kaum erinnert oder auch nur besprochen.
Für mich als Berlinerin ist Erinnerungskultur – auch in Form von Denk- oder Mahnmälern – normaler Alltag. In Bosnien ist das nicht so. Dieser Krieg ist so jung. Menschen aus meiner Generation haben den Krieg teilweise noch miterlebt. Wenn man in Sarajevo zum Beispiel entlang der „Sniper Street“ läuft, sieht man noch die Einschusslöcher in den Wänden der Häuser. Wenn man den Markt besucht, weiß man das dort vor gerade einmal 25 Jahren ein Massaker stattfand.
Auch wenn man die Menschen kennenlernt, spürt man erst einmal Mistrauen, vor allem zwischen der muslimischer und nichtmuslimischer Bevölkerung.
Salam
Irgendwann in diesem Jahr schaffte ich es nach Srebenica zu fahren. Im Auto mit mir ein Kommilitone und eine Freundin aus Deutschland. Sarajevo ist umgeben von Bergen und die Wege sind teilweise nicht leicht zu befahren, vor allem im Winter. Irgendwo in den Bergen fuhren wir an zwei älteren Damen vorbei. In dem Jahr, als ich in Sarajvo war, war der Winter besonders kalt. Wir reden von Temperaturen bis -25°C. Ich bat meinen Freund deswegen umzukehren und die Frauen mitzunehmen. Wir machten also eine Kehrtwendung. Als die Frauen das sahen, versuchte eine von ihnen sich zu verstecken, während die andere uns misstrauisch ansah. Ich begrüßte sie mit einem freundlichen ‚Salam‘. Denn das hatte ich schon in recht schnell gelernt: Viele ältere Muslim*innen begrüßten sich so, um zu signalisieren, dass sie Verbündete waren. Insbesondere beim Einkaufen und Betreten von muslimischen Läden, hatte ich mir das zu Gewohnheit gemacht.
Die Frauen atmeten auf. Eine fing an zu lachen und deutete auf meinen Freund „Ich dachte der sei Christ. Er hat rote Haare und einen roten Bart. Er sieht nicht aus wie ein Moslem.“ Sie erzählte uns, dass sie aus Srebenica komme, aber für die Beerdigung ihrer Freundin ins Nachbardorf gefahren sei. Der Bus jedoch kam nur einmal im Tag und sie müssten jetzt zu Fuß zurücklaufen. Das waren um die drei Stunden Fußweg. Wir nahmen sie mit und fuhren weiter.
Im Auto waren beide sehr schüchtern. Obwohl eine der Frauen sehr gut Englisch sprach. Sie erzählte uns knapp, dass sie im Krieg in die USA geflohen war und dort Lehrerin wurde, aber nach dem Krieg wieder in ihre Heimat zurückkehrte. Sie erklärte uns, dass sie immer noch Angst hatte vor der christlich-serbischen Bevölkerung, und im Misstrauen lebte. Der Weg nach Srebenica war die traurigste Autofahrt meines Lebens.
Niemals Vergessen
In meinem Bildungsalltag hat Srebenica nicht existiert. In Deutschland wird nicht darüber gesprochen. Ich erinnere mich nur daran, dass immer gesagt wurde, der Balkan ist ein Pulverfass – und genau so gehen wir Europäer*innen auch mit Bosnien und den anderen Ländern Ex-Jugoslawiens um. Wir betrachten sie nicht als gleichwertig. Das zeigt sich eben auch daran, dass dieser jüngste Krieg der europäischen Geschichte in der Schule nicht thematisiert wird. Weder auf politischer noch auf menschlicher Ebene ist ein angemessener Umgang mit dem Massaker von Srebenica gefunden worden.
Beim Völkermord von Srebenica am 11. Juli 1995 starben mehr als 8000 Bosniaken. Viele Leichen wurden bis heute nicht geborgen. Die Internationale Kommission für vermisste Personen ermittelt auch nach 25 Jahren noch anhand von Überresten die Namen der Leichen zu identifizieren. Die Anzahl der Opfer steigt Jahr um Jahr.
Die Bosnier vergessen Srebenica nicht und so müssen auch wir hier in Deutschland an das Massaker erinnern und dafür sorgen, dass so etwas in Europa niemals wieder passiert.
Bei der Organisation „Mütter von Srebenica“ suchen Frauen ihre Angehörigen und kämpfen gegen das Unrecht und das Vergessen. Munira Subašić, Vorsitzende der “Mütter von Srebrenica” sagte 2016 in einem ZEIT-Artikel:
„Wenn unsere Kinder kein Grab bekommen, ist es, als hätten sie nie existiert.“
Solange in Bosnien der Krieg noch sichtbar ist, dürfen wir ihn in Deutschland nicht vergessen.
#begegnung #solidarität
- von Hatice Tahtali
- am 10. Juli 2020