Muslim Women’s Day und die Frage nach der Selbstbestimmung
Muslim Women’s Day und die Frage nach der Selbstbestimmung
27. März 2020
Ich habe seit eineinhalb Wochen ein Gefühl der Enge in der Brust. Um genau zu sein, fällt mir aktuell die Decke auf den Kopf. Die vier Wände, für die ich dankbar bin, laufen auf mich zu und geben mir das Gefühl gefangen zu sein. Ich würde gerne rausgehen, die Frühlingsluft genießen und einen Kaffee an der nächsten Ecke trinken. Aber mein Verantwortungsbewusstsein lässt das nicht zu. Denn die Gefahr andere und mich selbst zu gefährden, ist einfach zu groß. Diese Einbußen in meiner Selbstbestimmtheit, nehme ich hin, weil es zum Wohle aller ist.
Trotz dessen kann ich auch in Zeiten von Pandemien, einer apokalyptischen Stimmung weltweit und trotz berechtigter Existenzängste nicht hinnehmen, dass mir meine Selbstbestimmtheit als muslimische Frau genommen wird. Und damit bin ich natürlich nicht allein. Bis vor dieser Pandemie mussten sich muslimische Frauen die niemals endenden Debatten um das Kopftuch anhören, Fragen der Zugehörigkeit stellen lassen und Befreiungsversuche abwehren.
Hierzulande ist er wenig bekannt, aber heute, am 27.03. ist der Muslim Women’s Day, ausgerufen 2016 von Amani Al-Khatahtbeh, alias ‚Muslim Girl‘, nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten. Das diesjährige Motto ist ironischerweise „autonomy“, also Selbstständigkeit oder eben auch Selbstbestimmtheit. Und in Anbetracht einer Pandemie, bekommt das Wort Selbstbestimmtheit einen leicht bitteren Beigeschmack. Denn in Zeiten von #wirbleibenzuhause stellt sich die Frage „Wie stark darf in unsere Freiheit eingegriffen werden?“ Für viele Menschen in Deutschland stellt sich die Frage nach der Selbstbestimmung und Freiheit im Alltag nicht, denn wir leben in einer Demokratie. Und in einer Demokratie hat man Rechte, von denen man Gebrauch machen kann. So selbstverständlich das klingen mag, sind für marginalisierte Menschen diese Grundrechte nicht immer Teil ihrer Lebensrealität. So ist es, dass bis heute Rechte vom Grundgesetz, wie Religionsfreiheit, das Recht auf eine freie Entfaltung und vor allem: Die Würde des Menschen, bei der Frage nach Sinn und Unsinn es Kopftuches Halt machen. Daher debattieren Politiker*innen, Feminist*innen und eigentlich jeder Mensch auf der Straße geradezu missionarisch immer noch über die Frage, ob denn nun „die muslimische Frau“ ein selbstbestimmtes Leben führen kann oder gar darf. Und ob denn „die muslimische Frau“ eigentlich unabhängig und frei sein kann?
Da alle obigen Fragen, seitens der medialen Berichterstattung, häufig mit einem klaren „nein“ beantwortet werden, ist der Ausdruck „selbstbestimmte muslimische Frau“ gleich einem Oxymoron: Ein Ding der Unmöglichkeit. Denn es wird viel zu selten mit muslimischen Frauen selbst, die unterschiedlicher nicht sein könnten, geredet, sondern über die muslimische Frau. Und diese „muslimische Frau“ stellt sich als Gegenspielerin zu der westlich emanzipierten Frau dar. Die muslimische Frau soll hören, sehen und umsetzen, was die Frau im Westen vorlebt. Die Pädagogin und Psychologin Birgit Rommelspacher schrieb hierzu treffend:
„Dieser Widerspruch zwischen ›Gleichheit‹ und ›Differenz‹ begegnet uns auch in den Konstruktionen der ›anderen Frau‹: Sie soll gleich werden und doch verschieden bleiben. Sie soll gleich werden, um den Emanzipationsauftrag zu erfüllen, gleichzeitig soll sie jedoch verschieden sein, um eine Kontrastfolie für das eigene Fortschreiten zu bieten. So symbolisiert im Orientalismus die orientalische Frau all das, was die westlichen Frauen hinter sich gelassen haben.“ (Rommelspacher 2009, S.200)
Rommelspacher führt weiter aus, dass es so scheint, dass so lange „die muslimische Frau“ nicht ihre Religion ablegt hat, jegliche Emanzipationsversuche nutzlos seien (vgl. ebd. 200). Dabei wird außer Acht gelassen, dass für viele junge muslimische Frauen, eben jene Religion, die mit dem argwöhnisch orientalistischen Blick betrachtet wird, ein Gefühl der Selbstermächtigung verschaffen kann. Dass eben diese muslimische Identität auch dazu führen kann, selbstbestimmt zu leben. Aber den muslimischen Frauen wird „ihre Diskriminierung als persönliche Entscheidung angelastet bzw. als Bestandteil ihrer Kultur verstanden, für die sie sich individuell zu verantworten haben“ (ebd. 201). Diese Diskriminierungen und das westlich geprägte Bild auf die muslimische Frau, gehen zudem einher mit gesetzlichen Restriktionen sowie sozialen und ökonomischen Belastungen (vgl. ebd. 201). Dabei ziehen all jene Leute, welche die muslimische Frau „retten“ wollen, nicht in Betracht, dass sie selbst einer der Gründe sind, warum muslimische Frauen erschwerten Zugang zu einem selbstbestimmten Leben haben.
Da muslimischen Frauen, besonders innerhalb weißer, feministischer Kreise, aber auch von Seiten der Politik, immer wieder die Selbstbestimmtheit abgesprochen wird, ist es umso wichtiger einen Tag zu haben, an dem die Geschichten von muslimischen Frauen sichtbar gemacht werden. Der International Women’s Day reich nicht aus, um die Kluft und die Machtpositionen zwischen Frauen verschiedener Hintergründe zu überwinden. Wir müssen uns bewusster machen, dass es nicht das eine Idealbild von Frauen oder dem Feminismus geben kann, sondern, dass die Freiheit zu entscheiden wie ich als Frau leben möchte der eigentliche Akt der Selbstbestimmung ist. Daher geht es am Muslim Women’s Day darum aufzuzeigen, wie verschieden und vielfältig muslimische Frauen und ihre Geschichten sind. Ein Tag wie dieser kann dabei helfen, muslimischen Frauen den (medialen) Raum zu geben, ihren Perspektiven Gehör zu verschaffen. So erzählt Amani Al-Khatahtbeh in einem Interview:
„We decided to create Muslim Women’s Day almost immediately after the 2016 election. For us, it was really depressing, as soon as the new year started, we were met with a conversation about the Muslim ban, and this unprecedented policy of religious discrimination, which was shocking and disheartening for a lot of people across the country. We really wanted to create an opportunity where we can first uplift Muslim women at a time when they were being increasingly targeted and alienated. And also create an opportunity for our allies to step up and show some support and come together for an important cause. We really wanted to center the voices that were being the most impacted and create a moment to respond to the hate with love.“[1]
Und so ist es, dass wenn ich die Worte von Amani Al-Khatahtbeh lese, sich die Enge in meiner Brust – wenn auch nur für einen Moment – löst. Dann flackert in mir Hoffnung auf und ich spüre, dass es einen Wandel geben wird. Dann wächst in mir die Überzeugung, dass, auch wenn muslimischen Frauen Steine in den Weg gelegt werden (sozial, ökonomisch und institutionell), der Zusammenschluss muslimischer Frauen, bei gleichzeitiger Anerkennung ihrer Unterschiedlichkeit, seine Früchte tragen wird. Es ist wichtig, Menschen zu zeigen, dass es weder den Islam noch die muslimische Frau gibt.
Aber die Brust engt sich in der Minute wieder, wenn ich an mein geliebtes Deutschland denke und an den langen Weg, den wir noch vor uns haben. Denn so lange muslimische Frauen Angst um ihre Existenz, ihre körperliche Unversehrtheit haben müssen, Angst haben müssen, ständig in ihrer Identität stigmatisiert zu werden, ist das Retten-wollen von muslimischen Frauen im Namen der Frauen- und Menschenrechte eine Scheindebatte, die es zu entlarven gilt. Denn diese Scheindebatte gefährdet Leben. Um genau zu sein, das Leben von muslimischen Frauen, die sehr wohl selbst entscheiden können wie sie leben wollen!
[1] https://www.allure.com/story/amani-al-khatahtbeh-muslim-womens-day-interview
Rommelspacher, Birgit (2009): Feminismus und kulturelle Dominanz. Kontroversen um die Emanzipation der muslimischen Frau. In: Berghahn, Sabine/ Rostock, Petra (2009): Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S. 395-412
#empowerment #feminislam
- von Sahide Cingöz
- am 27. März 2020