Mein inneres Kind spricht

Mein inneres Kind spricht

26. Februar 2025

Was ist, wenn unsere kindlichen Träume Wirklichkeit werden? Was ist, wenn unser inneres Kind beginnt zu sprechen? Unser Autor Dawud lässt sein inneres Kind in seiner Erzählung sprechen – über seine Familie und seine Heimat. Über eine Welt ohne nationale Grenzen, in der indigene Menschen keine Angst kennen. Es ist eine Erzählung, in der die Realität zur Vergangenheit und der Zukunftstraum zur Realität wird.

© The Darling Beast

Ich stehe vor dem Haus meiner Großeltern, in dem auch meine älteste Tante wohnt. Ich befinde mich in der Heimat.In einem kleinen Dorf mit zwei Namen, Kercews oder Kfar Gawze, im Norden Mesopotamiens. Hier kennen sich alle Menschen untereinander. Als ich auf den Balkon meiner Großeltern blicke, in der Hoffnung, dass Oma und Opa herausgucken, spricht mich jemand links neben mir in meinen Muttersprachen an. Kurmancî, Turoyo und Aschcharapar. Die Sprachen meiner Eltern und Vorfahren. Es fühlt sich befremdlich an, aber anscheinend sind diese Sprachen im Dorf präsent und werden im alltäglichen Leben gesprochen. Dieses Dorf ist seit Jahrhunderten von Mehrsprachigkeit geprägt, alle drei Sprachen sind dem Dorf inhärent.
Es ist ein warmer Sommertag, wahrscheinlich Ende Juli oder Anfang August. Ich höre die Bewohner von allen möglichen Ecken und Seitengassen, die es im Dorf gibt: im Bazar, vor dem Kiosk, neben der Moschee, in der Kirche, vor dem Eingang der Synagoge, auf den Dächern und in den kleinen süßen Häusern, aus denen der Geruch von Essen einem sofort verrät, welches Gericht in dem Haus zubereitet wird. Plötzlich ruft mich meine Oma vom Balkon: „Kurê min, were cêm mê u xwarinê de arî mê ke“ (zu Deutsch: „Mein Sohn, komm zu uns und hilf uns beim Essen“). Als wir oben auf dem freien Dach angekommen sind, befestigen meine Oma und Tanten frische Okraschoten, getrocknete Tomaten und Zucchini an Seilen, damit diese in der knallharten Sonne trocknen. Dann. Plötzlich. Mir wird kurz schwarz vor Augen. Während ich ins Gespräch mit meiner ältesten Tante vertieft bin, bleibt alles kurz stehen. Meine Präsenz hier fühlt sich merkwürdig an, als wäre ich nicht wirklich hier, als sei das alles unecht. Ich erinnere mich an die Vergangenheit, die so lange Realität war und jetzt ein bitterer Traum ist.
Ich erinnere mich an die Zeiten im Dorf, als Menschen nicht glücklich durch die Straßen umherwanderten, sondern sich in ihren Häusern versteckten, wenn das Militär mit gewaltvollen Panzern umherkreiste und Soldaten überall zu sehen waren. Dieses Bild kriege ich nicht aus dem Kopf. Der Staat wollte uns klar machen, dass wir seine Regeln befolgen müssen und uns nicht zur Wehr setzen dürfen. Wieso nur? Weil wir anders waren. Nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft.

Wir sind Kurden, Suryoyo und Armenier. Wir sind indigene Völker, deren Geschichten im Nationalstaat langsam, aber sicher verschwanden.

Noch bevor ich mich an die Details erinnern kann, komme ich zurück zur Realität und verlasse den bitteren Traum und sitze plötzlich im Wohnzimmer meiner Oma und spreche weiter mit meiner Tante. Um mich herum sitzen viele Familienangehörige: meine Eltern, meine Geschwister, weitere Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen bis zum dritten Grad, meine Großeltern und viele Bekannte. Der Raum ist nicht groß genug für so viele Menschen, aber irgendwie stimmen für kurze Zeit die Gesetze der Physik nicht, denn sobald jemand den Raum betritt, vergrößert sich alles, und alle finden einen Platz. Der Älteste von uns erzählt Geschichten aus der Vergangenheit in einer Sprache, die ich nicht spreche, aber auf wundersame Weise vollkommen verstehe. Eine alte Sprache, die seit Tausenden von Jahren ihre Wurzeln in diesem Gebiet hat. Im gesamten Raum verspüre ich eine goldene Wärme, die mich umarmt. Diese Wärme kommt von meiner Muttersprache. Erstaunt stelle ich fest, dass alle hier diese Sprachen beherrschen – Kurdisch, Aramäisch und Armenisch – sogar die jüngeren Generationen. Doch waren die Sprachen nicht vom Aussterben bedroht? Ist es nicht so, dass viele sie nicht sprechen konnten? Das ist wieder dieser bittere Traum der Vergangenheit. Ich schiebe ihn weg. Für einen Augenblick fühle ich einen Hauch von Befreiung – im Hier und Jetzt –, befreit von äußeren Zwängen, befreit von auferlegten Sprachen, die wir mal besser beherrschten als unsere Muttersprachen, befreit von Kleidervorschriften, mit denen wir uns unwohl fühlten, befreit von Nachnamen, die wir tragen mussten, die uns aber nicht repräsentierten, befreit von einer Angst, nicht sein zu dürfen, wer wir sind. Wie damals.
Denn im bitteren Traum der Vergangenheit sprach ich die Sprache meiner Unterdrücker besser als meine eigene Muttersprache. In der Sprache steckte eine Angst. Die Harmonie und Freude, die ich jetzt spüre, waren nicht existent. Damals kriminalisierte der Staat unsere Sprache und zwang uns, von heute auf morgen die Sprache zu lernen, die später einmal überall, in alle Häuser, in alle Moscheen, in alle Kirchen, in alle Gärten, in alle Dörfer, in alle Städte, in alle Krankenhäuser, in alle Schulen und in alle Köpfe hinein gepflanzt wurde. Die Geschichte meiner Vorfahren, die Erinnerungen aus der Vergangenheit, spielten sich vor meinen Augen wie ein Kinofilm ab. Stumm und in Schwarz-Weiß. Ich sah das Unvorstellbare. Leid, Brutalität, Zwang, Assimilation, Folter, Massenmord. Damals sagten die Überlebenden zu uns Nachfahren: „Xo vira meke!“ (zu Deutsch: „Nicht vergessen“). Ich begriff es nicht und versuchte, kurz innezuhalten. War meine Existenz eine Bedrohung? Nein. Meine Existenz war Gottes Geschenk. Doch für ihre Existenz als „die Besseren, Stärkeren, Dominanteren“ durfte meine Existenz nicht fortbestehen, weil sich sonst diese Nation als Lüge herausstellte. Also töteten sie uns, weil wir nicht waren, was sie waren.
Ich schüttle mich, schüttle diese schweren Gefühle aus der Vergangenheit ab. Ich habe nicht vergessen, ich werde nie vergessen. Heute ist alles anders. Wir sind frei. Wir sind.
Das Wohnzimmer wird immer voller. Meine Tante unterhält sich jetzt mit einer Cousine. Sie wollen einen Bus mieten, höre ich. Eine Reise in die nächstgelegene Großstadt steht bevor. Amed. Kurze Zeit später sitzen wir nicht mehr im Wohnzimmer, sondern im Bus und tragen alle traditionelle Kleidung. Der Busfahrer spielt Musik, und wir singen alte Lieder, bei denen manche denken, sie seien längst ausgestorben. Das war mal, jetzt lebt alles. Aus dem Fenster blicke ich in die Ferne und beobachte die Landschaft.

Das hier ist das historische Land meiner Vorfahren. Hier entwickelten sich Zivilisationen, Kulturen, Religionen, Formen des menschlichen Zusammenlebens. Was für ein Reichtum.

Im gemieteten Bus sitze ich ganz hinten, wieder neben meiner Tante, und esse eingepacktes Gebäck, das sie am vorherigen Tag zubereitet hat. Ich trinke sauberes Wasser von unserer örtlichen Bergquelle, kein Fabrikwasser, sondern Wasser, das wir aus fünf Kilometern Entfernung mit Eimern nach Hause tragen mussten. Während der Busfahrt krempelt meine Tante ihre Ärmel hoch. Ich sehe zahlreiche verschiedene kleine und sich ergänzende Tattoos. Dêq heißen die traditionellen Tätowierungen, die Frauen an den Armen und Gesichtern tragen. Dieser Brauch soll die Verewigung von Geschichte darstellen, und jedes Symbol hat eine einzigartige Bedeutung: Schutz vor dem Bösen, das Verleihen von Stärke oder Fruchtbarkeit. Eine uralte Tradition mit starken Bedeutungen. Ein süßer Anblick jetzt, aber bitter zugleich, wenn man bedenkt, dass Frauen früher deshalb dämonisiert und ausgegrenzt wurden.
Angekommen in der Großstadt, bemerke ich, dass das Leben hier viel dynamischer, schneller und größer ist als das einfache, süße, manchmal auch öde Leben im Dorf. Hier sprechen die Menschen mehrere Sprachen, manche verstehen wir, andere hingegen nicht. Alle denkbaren Religionen leben hier nah beieinander: Eine Moschee liegt direkt zwischen einer Kirche und einer Synagoge, alle drei Eingangstüren führen zu demselben Gebetsraum. Alle beten gleichzeitig und nebeneinander, manche stehend, andere kniend. Es ist so normal, dass die Menschen auf der Straße, mit vollen Einkaufstüten oder Kindern an der Hand, gar nicht überrascht in die Richtung blicken. Früher war das auch anders, aber ich bleibe im Hier und Jetzt. In der Realität. Ich will nicht wieder in den bitteren Traum abschweifen.
Es sind Menschen verschiedener Konfessionen, die in demselben Raum zusammen beten. Auf der Hauptstraße befindet sich der Eingang zum Marktplatz. Dieser ist der meistbesuchte Ort. Hier sind Museen, Einrichtungen, Vereine und Zusammenschlüsse von Menschen in verschiedenen Initiativen. Im Zentrum des Marktplatzes stehen gigantische Statuen. Eine Statue sticht mir besonders ins Auge. Eine Frau, die aus früheren und brutaleren Zeiten stammt und damals ermordet wurde. Jina Amini ist ihr Name. Ihr Tod führte zu weltweiten Protesten. Noch bevor wir uns nähern, sehe ich ihren Namen vor der Statue, davor liegen Blumen in verschiedensten Farben. Neben der Statue sind weitere von Seyîd Riza, Qazî Mihemed, Aramê Dîkran und vielen weiteren bekannten Persönlichkeiten aus der Geschichte. Dahinter befinden sich Gedenkstätten für ehemalige Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Aghet, Sayfo, Fermana Êzîdiyan und Helebce. Vorbeilaufende Menschen lesen die Texte auf den davor stehenden Schildern zur Geschichte, Bedeutung und Herkunft der Statue und gedenken den Ermordeten, unabhängig von der Religion. Weil ich so fixiert auf die Statue bin, stupst mich meine Tante an und erzählt mir, dass dieser berühmte Marktplatz sogar nach ihr, Jina Amini, benannt wurde.
Da erinnere ich mich, der Traum zieht mich wieder zurück.
Diese Statue zeigt eine Frau, die ermordet wurde, weil sie gegen irgendwelche vermeintlichen religiösen Verpflichtungen verstoßen hätte. Danach fanden Massenproteste statt, Menschen in New York, London, Berlin und überall auf der Welt protestierten. Doch es änderte sich nichts. Es wurde keine Statue gebaut, keine Straße nach ihr benannt oder irgendeine Form von Erinnerung gefördert. Die Erinnerung fand im Verborgenen statt. Im dunklen Licht der Herzen, wo keiner hineinblicken konnte. Der Nationalstaat ließ den Mord an einer jungen Frau zu – ohne Konsequenzen für den Mörder. Warum? Weil der Mörder im Auftrag des Staats gehandelt hat. Der Staat nahm uns die Freude am Leben. Solidarisch zueinander zu sein, war damals lebensgefährlich. Wie kann man nicht denjenigen gedenken, die gewaltvoll aus dem Leben gerissen wurden? Ganze Religionen und Ethnien sollten ausgelöscht werden. Der Staat erinnerte daran nicht, es waren die Verbliebenen, die Kinder und Kindeskinder der Überlebenden des Völkermords, die die Stimme der Vergangenheit in sich trugen und sich geschworen haben, das Vergessen zu verhindern. Gruppen kehrten in sich ein, vermittelten nur ihre Geschichten in eigenen Kreisen, denn die öffentliche Auseinandersetzung mit ihren Geschichten bedeutete nicht selten Gefängnis, Folter oder Mord. Also verschlossen wir die Augen, wissend, dass das, was passiert, einen Namen trägt: Ungerechtigkeit.
Es wird wieder dunkel. Ich spüre einen Sog …

Plötzlich stehe ich an einem etwas dunklen Ort, unterirdisch, mit Feuerbeleuchtung an den Wänden. Wo ist eigentlich meine Tante? Um mich herum stehen Menschen verschiedener Konfessionen, Ethnien und Kulturen nebeneinander. Ihre Gemeinsamkeit ist ihre Staatenlosigkeit. Alle Anwesenden sind staatenlos, nicht weil sie es sein wollen, sondern weil sie gezwungen wurden. Sie glauben an eine staatenlose Welt. Staaten sind ihrer Auffassung nach keine natürlichen Gegebenheiten wie der Boden, der Baum, das Tier oder der Mensch. Staaten sind brutale Konstrukte, die uns in Hierarchien ordnen und früher oder später in Gewaltexzessen münden. Das hörte ich immer wieder.
Die Menschen bilden einen Kreis, und in der Mitte befindet sich auf einem fast unendlich langen Tisch eine Weltkarte mit Nationalstaaten, die durch Grenzziehungen voneinander unabhängig sind. Doch sind die Menschen in diesen Nationalstaaten unabhängig vom Nationalstaat? Alle zünden das Holz, das sie in der Hand halten, mit dem Feuer an der Wand an und legen es gemeinsam auf die Weltkarte. Ich frage mich, welche Bedeutung das hat. Ist das gerade echt? Sehe ich gerade das, was ich sehen will? Oder ist das eine Vision, die ich mir vorstelle, in die ich tief eingetaucht bin? So tief, dass ich die Wirklichkeit nicht mehr vom Traum trennen kann? Vielleicht lebe ich im Traum oder anders formuliert: Vielleicht träume ich im Leben.
Eine andere Erklärung gibt es dafür nicht.
Ich sehe mich um und beobachte, wie sich alle umarmen und in Tränen zusammenbrechen. Auch meine Tante kann ich wieder sehen, sie ist unter ihnen. Meine Oma, mein Opa, mein Cousin, mein Onkel. Alle.
Ein Zusammenleben ohne Grenzen. Wir leben fortan in unseren Dörfern, besuchen uns
gegenseitig an wichtigen Tagen und feiern gemeinsam unsere verschiedenen religiösen Feste, tanzen in traditioneller Kleidung, sprechen unsere Muttersprachen, lachen zusammen und erinnern an unsere Vorfahren, die den Geschmack von Freiheit nicht genießen durften.

*Die Geschichte spielt im Dorf Kercews/Kfar Gawze, das sich in den heutigen Staatsgrenzen im Südosten der Türkei befindet. Die Region liegt an der Grenze zu Syrien sowie Irak und steht historisch für Multiethnizität und Multireligiosität. Der Autor schreibt aus einer Betroffenheitsperspektive. Die in der Geschichte beschriebenen dunklen Kapitel stehen stellvertretend für das Leid, die Assimilation und Vernichtung von Minderheitengruppen, die seit jeher in der Diaspora leben und sich danach sehnen, ein friedliches Leben in der Heimat ihrer Vorfahren führen zu können.

Der Beitrag ist im Printmagazin ‚bittersüß‘ der JIK Medienakademie 2023 erschienen. 

#erinnerungskultur #familie #herkunft #zugehörigkeit

  • von Dawud Yildirim
  • am 26. Februar 2025

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