Islam und Pflege – Wieso Pfleger*innen oft an relgiösen Bedürfnissen scheitern

Islam und Pflege – Wieso Pfleger*innen oft an relgiösen Bedürfnissen scheitern

18. November 2019

Über den Fachkräftemangel im Bereich Pflege wird deutschlandweit diskutiert. Doch wie wirkt sich dies auf einen religionssensiblen Umgang mit Betroffenen aus? Und ist es unter diesen Umständen noch möglich, seinen Glauben als Betroffene*r auch im Pflegefall auszuleben? Unabhängig davon welcher Religion man sich zugehörig fühlt?

Eine Betrachtung aus der Praxis von unserem Netzwerkmitglied Nele.

© Pixabay

Das wichtigste zuerst: Als Heilerziehungspflegerin habe ich die Erfahrung gemacht, dass meist alle Beteiligten sehr motiviert sind, auf Wünsche und Vorzüge der Bewohner*innen einzugehen. Unabhängig davon, welche kulturellen oder religiösen Hintergründe der*die Klient*in mitbringt. Trotzdem stoße ich in meinem Beruf oft auf Grenzen, die mich zur Frage führen, ob und wie das Recht auf Religionsausübung für Pflegepatient*innen gewährleistet werden kann.

In meinem Beruf befasse ich mich meist mit dem Leben von schwerstmehrfachbehinderten Menschen, die sich oft weder verbal ausdrücken noch sich ohne Hilfe fortbewegen können. Sie brauchen verschiedenste Unterstützung zur Alltagsbewältigung, indem sie Essen angereicht bekommen oder bei der Körperpflege unterstützt werden. Doch wie steht es um die Ausübungsmöglichkeiten ihrer Religion, (wie) können religiöse Bedürfnisse in der Pflege beachtet werden?

Im heilerzieherischen Alltag wird in der Regel schnell deutlich, dass es dabei aus zeitlichen, personellen und strukturellen Gründen kaum möglich ist, auf alle Wünsche einzugehen. So werden zunächst solche Bedürfnisse übergangen, in denen Fachkräfte am wenigsten Sinn sehen. Diese Entscheidungen fallen oft sehr individuell und spontan aus. Sie sind meist aber unabdingbar, da nicht alle Aufgaben in der verfügbaren Arbeitszeit erledigt werden können. Zudem sind viele Kräfte über die verschiedenen Religionen und dazugehörigen Praktiken nicht ausreichend informiert. Ein Großteil der Angestellten besteht in der Regel aus christlich geprägten Mitarbeiter*innen, die ihr religiöses Fachwissen häufig in der Kirche oder im konfessionsgebundenen Religionsunterricht erworben haben. Ich selbst habe bisher noch nicht mitbekommen, dass innerhalb der Einrichtungen Fortbildungen zum Thema Interreligiosität oder Islam angeboten wurden. Diese sind jedoch zwingend erforderlich, damit die Mitarbeiter*innen ihr Wissen auffrischen, erweitern und konkrete Fragen zum Umgang im Alltag stellen können.

Die mangelnde Rücksicht auf religiöse Bedürfnisse ist also primär auf den allgemeinen Missständen in Pflegeeinrichtungen und die Unwissenheit des Personals zurückzuführen und nicht in erster Linie auf mangelnde Kooperationsbereitschaft der Pfleger*innen.

Ein schweinefleischloses Gericht zusätzlich zu bestellen bereitet vergleichsweise wenig Aufwand, sodass es (wenn der Lieferant ein entsprechendes Gericht anbietet) in der Regel auch umgesetzt wird. Das Feiern von muslimischen Festen oder das Assistieren bei Gebeten hingegen ist aufwendiger und wird – vor allem bei eingeschränkten Mitteilungsvermögen der betroffenen Klient*innen – oft nicht realisiert oder überhaupt in Erwägung gezogen.

Im Alltag einer*eines Pfleger*in kommen sich zudem religiöse und körperliche Bedürfnisse der Patient*innen so manches mal in die Quere. Die Frage, inwiefern die Selbstbestimmtheit des*der Betroffenen gewahrt werden muss, ist immer dann neu auszuhandeln, wenn es zu gesundheitlichen Schäden führen kann. Wenn ein*e Klient*in beispielsweise stark untergewichtig ist und das gewählte Gericht verweigert, ist zu diskutieren, ob ihm*ihr auch ein Gericht mit Schwein anzubieten ist. Erschwerend kommt hinzu, dass der*die Klient*in womöglich nicht in der Lage ist sich mitzuteilen, ob er*sie Schwein essen möchte oder nicht. Dramatisch wird die Situation, wenn es um jedes Gramm geht, was der*die Betroffene zu sich nehmen sollte. Wenn er*sie die orale Nahrungsaufnahme verweigert, wird langfristig eine Magensonde gelegt, was einen operativen Eingriff (und somit weitere gesundheitliche Risiken) und womöglich der Verlust von Sinneswahrnehmungen bedeuten würde. Es ist eine sehr kontroverse und komplexe Situation, bei der man dem Personal mit Aufklärung und Präsenz des Themas im Alltag zur Hilfe kommen sollte.

Ein weiteres Problem stellt das mangelnde Angebot an konfessionslosen oder muslimischen Einrichtungen dar. Die Lebenshilfe ist mit 1.345 Wohnstätten[1] eine der größten konfessionslosen Einrichtungen in Deutschland. Eine muslimische Einrichtung ist mir persönlich nicht bekannt. So müssen viele pflegebedürftige Menschen in einem christlichen Wohnheim untergebracht werden, obwohl sie vielleicht ein muslimisches oder konfessionsloses Wohnheim bevorzugen würden.

Besonders kritisch sehe ich diesen Punkt im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Da viele Heime und Pflegefamilien überfüllt sind, besteht oft keine Auswahlmöglichkeit, so dass die leiblichen Eltern und die Kinder selbst keinerlei Entscheidungsfreiheit haben, in welchen Kreisen sie aufwachsen wollen. Viele religiöse Einrichtungen praktizieren religiöse Rituale und Feste und argumentieren, dass diese Sicherheit im Jahresablauf schaffen. Zudem können die Kinder und Jugendlichen bei den Vorbereitungen und Durchführungen eingebunden und somit in verschiedenster Weise gefördert werden. Dies ist im Sinne des Normalisierungsprinzips[2] und weiteren pädagogischen Konzepten zwar sehr löblich, allerdings werden schwerpunktmäßig christliche Feste gefeiert. Auch in konfessionslosen Einrichtungen ist ein Großteil der Mitarbeiter*innen christlich geprägt, sodass das Ausrichten von muslimischen und anderen religiösen Festen – aufgrund mangelndem Wissen und erhöhtem organisatorischen Aufwand – vernachlässigt werden.

Gut organisierte Eltern- und Angehörigenarbeit könnten unterstützend wirken. Einige Einrichtungen zeigen sich hierbei bereits fortschrittlich und sollten anderen als Vorbild dienen. Daneben gilt es weiterhin, die Klient*innen zu ermutigen, ihre Selbstbestimmung zu wahren und religiöse Bedürfnisse zu achten. Gleichzeitig müssen Fachkräfte religionsübergreifend aus- und weitergebildet sowie Vorurteile abgebaut werden. Es muss Kooperationsbereitschaft gezeigt und ausgebaut werden, damit mit Hilfe von Angehörigen und entsprechenden Organisationen auch muslimische Feste in Pflegeeinrichtungen gefeiert werden können. Damit alle Religionen einen gleichberechtigten Stellenwert in der Pflege erlangen und unsere Gesellschaft von der Vielfältigkeit der Religionen profitieren kann.

[1]  Quelle: online im Internet. URL: https://www.lebenshilfe.de/ueber-uns/organisation-der-lebenshilfe/ [Stand: 15.06.2019, 08:28 Uhr]
[2]  Das Normalisierungsprinzip ist ein Konzept, welches eine möglichst normale Lebensführung für Menschen mit Behinderung einfordert. Zum Beispiel fordert es einen normalen Jahresrhythmus und die Trennung von Arbeit und Wohnen.

#begegnung #herkunft #integration #zugehörigkeit

  • von Nele Steinbring
  • am 18. November 2019

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