Hijab als Entscheidung zum schwereren Leben

Hijab als Entscheidung zum schwereren Leben

6. August 2024

Netzwerkmitglied und Fellow der Sommerkonferenz im letzten Jahr, Yağmur, teilt ihre Erfahrungen über die Herausforderungen und Diskriminierungen, die Musliminnen mit Hijab in der Schule erleben. Ihre Geschichte zeigt, warum Aufklärung und Sensibilisierung in Schulen nötig sind, um einen sicheren Raum für alle Schüler*innen zu schaffen.

Habt ihr schonmal darüber nachgedacht, ob ihr euch für Hass entscheiden wollt?
Standet ihr schon einmal vor der Wahl, ob ihr es akzeptiert, Gewalt zu erleben oder nicht?
Oder ob ihr bereit seid, mehr Diskriminierung im Alltag zu erleben?
Ich leider ja.

Denn das sind die Gedanken, die mit der Entscheidung für das Kopftuch verbunden sind. Ein Kopftuch bedeutet für eine Muslima vieles. Es bedeutet mehr Spiritualität und Nähe zum eigenen Glauben. Geborgenheit und Stolz. Ein größeres Gemeinsamkeitsgefühl zu anderen Muslimen, die man vielleicht noch nicht kennt.
Aber es bedeutet auch mehr Hass im Alltag, mehr Diskriminierung, mehr Gewalt und mehr Angst.

Die Schule, die hierbei eigentlich als Safe Space dienen sollte, birgt die meisten Gefahren. Hier haben wir eine Institution, in der die Schülerinnen die meiste Zeit ihres Tages verbringen und Noten bekommen, die ihre Zukunft bestimmen. In einer idealen „Dream School“ kann sich jedes Kind individuell entfalten, ohne davor Angst haben zu müssen oder sich schämen zu müssen, weder wegen der Herkunft noch der zugehörigen Religion, des Aussehens oder anderer Merkmale. Die Individualität und Vielfalt würden geschätzt, akzeptiert und unterstützt werden.

Diskriminierung ist ein Alltagsproblem – Und somit leider ein Alltagsproblem vieler Schüler*innen

Die Wahrheit ist jedoch anders. Diskriminierung ist ein Alltagsproblem. Und somit leider ein Alltagsproblem vieler Schüler*innen. Unangenehme Aussagen, ungerechte Benotungen, unfaire Behandlung bis hin zu Beleidigungen von Lehrer*innen sind nur eine Handvoll der Probleme, mit denen BIPoC Schüler*innen tagtäglich kämpfen müssen. Wenn du als BIPoC Schüler*in zum ersten Mal realisierst, dass du teilweise deine gesamte Schullaufbahn diskriminiert und rassistisch angegriffen wurdest, hinterfragst du plötzlich alles. Jede Note, Bestrafung, jedes Lehrer*innengespräch. Die Schule ist für BIPoC Menschen und Muslim*innen schon lange kein Safe Space mehr. Und genau das muss sich ändern.

Ich sehe das Hijab als größte Herausforderung der Schulzeit für eine Muslima. Wir haben Angst davor, rassistisch beleidigt zu werden von unseren eigenen Lehrer*innen, die es auch schon ohne das Kopftuch getan haben. Wir haben Angst vor Vorurteilen. Wir haben Angst, unseren Eltern eine Last zu sein, die sich vor den Schulen rechtfertigen müssen, uns nicht zu dieser Entscheidung gezwungen zu haben. Wir haben Angst davor, schlechtere Noten zu bekommen und unseren Abschluss dadurch nicht zu schaffen. Wir haben Angst als unterdrückt betitelt zu werden oder zurückgeblieben oder antifeministisch. Wir haben Angst vor unserer Zukunft und einem erschwerten Alltag, nur weil wir uns selbst verwirklichen wollen. Wir haben Angst und können uns dadurch nicht ausleben, wie wir wollen. Wir haben Angst vor der Wahrheit, mit der wir konfrontiert werden. Nämlich, dass es Rassismus gibt. Dass es Diskriminierung gibt. Das dies der Alltag ist und wir das an uns selbst erleben dürfen. Und genau aus dieser Angst habe ich mich damals gegen das Hijab entschieden. Heute, als Frau mit Hijab, weiß ich, dass ich mit der Angst recht hatte. Ich kann heute damit nur besser umgehen. Was also muss in Schulen falsch gelaufen sein, dass es tausende Schülerinnen zu solch einer Entscheidung drängt? Und was kann sich bessern, damit so etwas nicht mehr geschieht?

Es muss vermittelt werden, was rassistisches Denken ist und welche Auswirkungen dies auf die vielfältige, postmigrantische Gesellschaft haben kann

Zunächst müsste es mehr Aufklärung bei Schüler*innen, aber auch Lehrer*innen geben. Diese müssen sich vor allem damit beschäftigen, dass unterschiedliche Religionen, hier auch der Islam, nie dem diskriminierenden Bild entsprachen, welchem sie unterliegen. Es muss vermittelt und veranschaulicht werden, was rassistisches Denken ist, aus welchem Ursprung diese Art von Denken entstand und welche Auswirkungen dies auf die vielfältige und postmigrantische Gesellschaft haben kann. Eine diesbezügliche Ergänzung im Lehrplan würde helfen, sowohl Schüler*innen als auch Lehrkräfte zu sensibilisieren, so dass eine offene und sichere Schule keine Utopie mehr darstellt.

Darüber hinaus müsste es eine externe Beratung und Aufklärung für Lehrkräfte geben. Lehrkräfte müssen verstehen, wann sie zu weit gehen, was eine BIPoC Person verletzen kann, welche Aussagen beleidigend sind und was für Auswirkungen diese haben können. Kinder sind formbar. Und solange es Lehrkräfte gibt, die rassistische Äußerung nicht nur selbst tätigen, sondern diese auch noch verteidigen, wird unsere Gesellschaft immer die Rechtfertigung wichtiger finden als die Gefühle des Gegenüber. Zu meiner Schulzeit waren rassistische Aussagen seitens der Lehrkräfte Alltag – das kann und darf nicht länger toleriert werden.

Zuletzt gibt es ein institutionelles Problem: Weder Schüler*innen noch Lehrkräften wird die Möglichkeit gegeben, sich in einem sicheren Rahmen zu beschweren oder auszutauschen. Es fehlt an Institutionen, welche sich mit den Belangen der jeweiligen Parteien beschäftigen und diesen in verschiedenen Situationen weiterhelfen. Beschwerde- und Anlaufstellen sowie Beratungszentren in und um Schulen sind nur wenige Möglichkeiten, welche Schulen in Anspruch nehmen sollten. Dabei sollte vermittelt werden, dass weder Schüler*innen noch Lehrkräfte mit ihren Problemen allein dastehen, sonders dass diese jederzeit auf Unterstützung und Beratung hoffen können. Diskriminierung ist kein persönliches Problem. Es ist ein gesellschaftliches Problem. Und es ist Zeit, dieses Problem auch so zu behandeln.

Wir müssen anfangen, das Problem zu benennen und dagegen anzugehen. Der Gedanke an eine Schule als Safe Space sollte nicht mehr utopisch, sondern möglich und machbar sein. Eine Dreamschool aus postmigrantischer Sicht ist kein Wunschdenken, wenn wir bereit sind, das Problem anzugehen.

Lasst uns eine Dreamschool ermöglichen!

Der Beitrag ist im Rahmen des Fellowships bei der Sommerkonferenz 2023 entstanden.

#rassismus #zugehörigkeit

  • von Yağmur Topçu
  • am 6. August 2024

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