Heimatgefühlsverlust
Heimatgefühlsverlust
16. Juli 2018
Eigentlich mag ich Deutschland. Es gibt ein paar wenige Länder, in denen ich zwar noch lieber geboren worden wäre, aber es gibt viel mehr, in denen ich nicht gerne geboren worden wäre. Ich bin ganz froh, deutsch zu sein.
Aber jetzt habe ich keine Lust mehr auf Deutschland.
Ich habe schon länger mit dem Gedanken gespielt, wieder für etwas länger ins Ausland zu gehen. Deutschland ist im weltweiten Vergleich zwar ziemlich progressiv, aber im europäischen Vergleich spielt Deutschland schon lange nicht mehr in der ersten Liga. Für meinen Geschmack könnte Deutschland noch aufgeschlossener für linke Veränderungen sein.
Nun hat sich seit einigen Tagen meine Lust aufs Ausland besonders massiv gesteigert.
Ich möchte Deutschland verlassen, weil es mir politisch hier immer weniger gefällt. Die Stimmung kippt zunehmend nach rechts und gegen meine Herzensthemen. In so einem Land möchte ich gerade nicht leben.
Ich fühle mich nicht mehr wohl im eigenen Land
…Also erstmal weg. Ich mache mir schon länger Gedanken darüber, wo ich denn hin möchte. Und dabei fällt mir gerade eine Sache auf: Ich kann überall hin.
Klar, ist ein bisschen schwieriger, in die USA zu gehen, aber überhaupt nicht unmöglich für mich. Warum? Weil ich einen deutschen Pass habe.
So lange ich nicht öffentlich sage, dass Taiwan ein eigenständiger Staat ist, kann ich nach China.
So lange ich nicht öffentlich sage, dass Palästina ein eigenständiger Staat ist, kann ich nach Israel. Natürlich gibt es hier und da bürokratische Hürden, aber ich habe die Möglichkeit, überall hin zu gehen. Per Flugzeug.
Ich möchte Deutschland verlassen, weil es mir politisch hier nicht gefällt. Und dann frage ich mich, wie es mit meinem Pendant im Sudan, in El Salvador, in Bangladesch aussieht. Vielleicht gefällt ihr die Situation ja auch nicht so. Vielleicht hat sie kein Geld. Vielleicht geht es bei ihr um Leben und Tod. Aber sie kann wahrscheinlich nicht mal legal ins Nachbarland. Warum nicht? Weil sie keinen deutschen Pass hat.
Ich habe absolut nichts für meine Reisefreiheit getan. Es gibt überhaupt keinen Grund, warum man mich lieber in seinem Land haben sollte als mein Pendant aus El Salvador. Ey, ich bin so faul, wer weiß, ob ich überhaupt dort arbeiten würde. Wahrscheinlich wäre ich nur eine Last für das System. Aber ich bin deutsch, sie nicht. Ich wurde durch Zufall in Deutschland geboren und zack, die Welt steht mir offen. Ich kann einfach alles erreichen, auch wenn ich vielleicht gar nicht so befähigt hin, wie mein Pendant aus Bangladesh. Aber auf meinem Pass ist ein Adler, auf ihrem nicht.
Ich habe keine Lust mehr auf Deutschland. Ich habe keine Lust mehr auf Europa.
Ich möchte kein Teil einer Gemeinschaft sein, die anderen das Überleben verwehrt. Oder einfach nur ein besseres Leben. Ich, und viele andere Europäer*innen sicher auch, können uns gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn einem aus Arroganz und Selbstgefälligkeit und einfach, weil man keinen Bock hat, die Tür vor der Nase zugeschlagen wird. Ich bin ehrlich, das ist für mich unvorstellbar. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem diese Praxis aber von der Mehrheitsgesellschaft gewünscht ist und gelebt wird. Ich möchte nicht in einem Land leben, das von sich behauptet, strebenswerte Werte zu besitzen und nach ihnen zu leben, wenn es gleichzeitig aktiv dafür kämpft, dass Menschen kein besseres Leben führen können. Davon möchte ich kein Teil sein. Deswegen habe ich keine Lust mehr auf Deutschland.
#herkunft #integration #zugehörigkeit
- von Saskia Heegardt
- am 16. Juli 2018