Eine Nacht in Jerusalem
Eine Nacht in Jerusalem
18. November 2019
Imane war mit anderen Netzwerkmitgliedern der JIK in Jerusalem und beschreibt, wie sich eine Nacht dort für sie angefühlt hat.
Es war ein Donnerstag, eine kühle Brise schwebt in der Luft, während ich mit immer schnelleren Schritten die Jafa-Street entlang laufe. Ab und zu vernehme ich einzelne Wortsequenzen, die Ali und Jess austauschen. Sie laufen hinter mir. Immer wieder höre ich von meinen Mitmenschen: mit dir kann man kaum Schritt halten. Eventuell liegt es daran, dass ich früher Leichtathletin war und schnelles Laufen gewöhnt bin – vielleicht liegt es auch an diesem Ort.
Besonders in der heiligen Stadt ertappte ich mich dabei, wie mich einzelne Beobachtungen oder Blicke aus der Fassung bringen… mal werde ich schneller, mal laufe ich sehr langsam. Es scheint mir, als ob alle Menschen sich in die gleiche Richtung bewegen. Mit einer To-Do-Liste im Kopf. Eine Menge Verpflichtungen habe ich in Deutschland hinter mir gelassen und dachte ich wäre frei. Doch noch nie fühlte ich mich in diesem Maße in meinen eigenen Gedanken gefangen.
Vorwärts bewege ich mich. Von außen betrachtet, mag es diesen Anschein erwecken, allerdings versperren mir Soldaten den Weg. Und ich begann zu verstehen, warum deren Präsenz eine Notwendigkeit ist. Innerlich bewege ich mich in der Geschichte rückwärts. Das müssen die Soldaten verhindern. Dafür stehen sie da. Sie machen den Menschen den Weg zu der eigenen Wahrheit unzugänglich. Ich beabsichtige, ihnen in die Augen zu schauen. Sagt man nicht, die Augen seien der Spiegel zur Seele? Weshalb erkenne ich keine Seele? Will ich sie gar nicht erkennen? Das kann gut sein, man sieht das, was man sehen möchte, denke ich mir und laufe weiter.
Auf dem Weg zum palästinensischen Nationaltheater fühle ich mich sehr wohl. Straßennamen sind mir vertraut. Ihre bloße Existenz bringt mich zum Lächeln. Da werden meine Schritte langsam, gar träge, ich komme kaum voran. Was aber keiner sieht: Ich mache Gedankensprünge in unfassbaren Dimensionen.
Meine schnellen Schritte werden plötzlich von einen Mann durchkreuzt. „Deine Haare sind schön“, sagt er mir. „Danke“, erwidere ich und will mein vorheriges Tempo wieder aufnehmen. „Von hier bist du aber nicht?“, fragt er. „Nein ich bin aus Deutschland“, entgegne ich und laufe weiter. Eine dritte Bemerkung bringt mich letztlich zum Stehen: „Du siehst aber nicht Deutsch aus!“ Ich bin ursprünglich aus Marokko, lebe aber seit über 10 Jahren in Deutschland, war das Antwort genug? Frage ich! „Meine Großeltern leben in Casa Blanca“, sagt er euphorisch auf Marokkanisch. „Hast du 20 Minuten Zeit? Ich möchte mich gerne mit dir unterhalten“, wirft er dazwischen. „Mir rennt die Zeit davon“, erwidere ich und nehme mein schnelles Tempo wieder auf.
In der Unterkunft angekommen, bleibt wie jede Nacht eine Frage offen: Vielleicht liegt es an der Jafa-Street. Woanders wäre ich vielleicht stehen geblieben und hätte mit ihm 20 Minuten lang geredet. Vielleicht!
Statisch fühlt sich mein Körper an. Es schmerzt.
Kann man dich überhaupt aus der Distanz erfassen, begreifen du Erhabene?
#begegnung #freundschaft #herkunft
- von Imane El Guennouni
- am 18. November 2019