Angst vor dem Morgen: Warum wir heute handeln müssen
Angst vor dem Morgen: Warum wir heute handeln müssen
29. Oktober 2024
JIK Talks Fellow Nurgül spricht über ihre Ängste angesichts des gegenwärtigen Rechtsrucks. Sie schildert ihre persönlichen Erfahrungen mit Rassismus und wie die Solidarität, die sie erfahren hat, sie inspiriert hat, selbst aktiv zu werden.
Ich habe Angst.
Angst davor, dass wir bald nicht mehr so leben können, wie wir es gewohnt sind. Dass wir unsere Freiheit verlieren, nicht mehr unbeschwert durch die Straßen laufen können. Ich habe Angst, dass rechtsextreme Ideologien in unserer Gesellschaft wieder mehr Raum einnehmen und unsere Werte von Vielfalt, Freiheit und friedlichem Zusammenleben bedrohen. Aber die eigentliche Frage ist: Kann ich das überhaupt jetzt schon? Kann ich heute wirklich sagen, dass ich ohne Furcht und unbeschwert durch die Straßen gehe? Kann ich das? Könnt ihr das?
Ich fühle mich in meiner eigenen Heimat nicht mehr wohl, in meinem Zuhause nicht mehr sicher. Diese Ängste sind real und berechtigt. Das Thema Migration ist überall präsent und das Wort „Abschiebung“ ist in aller Munde. Niemals hätte ich gedacht, dass mich dieses Thema einmal persönlich betreffen könnte. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, doch plötzlich wird über Abschiebung geredet, als sei es eine greifbare Möglichkeit. Aber wohin sollte ich abgeschoben werden? Nach Hamburg?
Es bedrückt mich zutiefst, zu wissen, dass fast ein Viertel der Menschen mit Migrationsgeschichte überlegt selbst auszuwandern. [1] Das ist kein Witz, das ist die Realität. Und diese Realität beängstigt mich, aber sie macht mich auch wütend. Wütend darüber, dass wir dieses allgegenwärtige Problem noch immer nicht im Griff haben. Wütend, dass ich immer noch darüber sprechen muss. Wütend, dass es vor allem die Betroffenen sind, die Aufklärungsarbeit leisten müssen.
Anfang des Jahres ist mir etwas passiert, das mich tief bewegt hat. Ich war im Bus, als ein Mann mich anpöbelte und immer wieder provokant „Salamalaykum“ sagte. Es war klar, dass er mich nicht freundlich begrüßen, sondern einfach nur nerven wollte. Zunächst ignorierte ich ihn, doch als er nicht aufhörte, sagte ich ruhig: „Hallo, Sie können auch einfach nur Hallo sagen.“ Daraufhin meinte er: „Aber du bist doch Moslem.“ Ich entgegnete: „Ja, aber Sie ja nicht.“ Daraufhin fing er an, seinen ideologischen Unsinn zu verbreiten: „Ja, bald übernehmen die hier alles, und das darf nicht so weitergehen.“ Ich kann diesen Quatsch wirklich nicht mehr hören, also setzte ich meine Kopfhörer wieder auf, weil ich einfach keine Kraft mehr hatte, dagegen zu reden. Zu meinem Erstaunen ergriff dann ein anderer Mann das Wort, der nicht weit entfernt saß – ich konnte ihn nicht als PoC lesen. Er stellte sich gegen den Pöbler und sagte: „Wir wollen Ihr Gelaber hier nicht hören. Wenn Sie nur pöbeln wollen, dann verlassen Sie den Bus.“
Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie überrascht ich war. So etwas erlebe ich selten. Tatsächlich war es das erste Mal, dass sich jemand mal für mich eingesetzt hat. Zumindest fühlte es sich so an. Sonst waren es nur Menschen, die ähnliche Erfahrung gemacht haben, die sich für mich einsetzen.
Obwohl ich äußerlich ruhig blieb und einfach meine Kopfhörer aufsetzte, raste mein Herz. Dieses Gefühl kennt ihr bestimmt, oder? Es sollte doch eigentlich selbstverständlich sein, dass Menschen füreinander einstehen. Warum war er der Einzige, der etwas gesagt hat?
Ich habe wirklich Angst. So groß meine Angst auch ist, so groß sollte auch meine Hoffnung sein. Und das ist wirklich nicht so dahingesagt. Auch wenn meine Alltagserfahrungen oft ziemlich hart waren, konnten mich diese Erfahrungen nie als Betroffene stilllegen. Im Gegenteil, ich habe daraus eine besondere Stärke entwickelt und schon früh gelernt, aktiv zu handeln. Solidarität habe ich immer von Menschen erfahren, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, und genau daraus ziehe ich meine Inspiration, auch solidarisch zu handeln.
Wenn man wirklich etwas verändern will, muss man dort ansetzen, wo Entscheidungen getroffen werden: in der Politik. Deshalb habe ich mich entschieden, politisch aktiv zu werden und einer Partei beizutreten. Seitdem habe ich viel darüber gelernt, wie das politische Geschäft funktioniert und wie ich meine eigenen Perspektiven einbringen kann. Besonders das letzte Jahr war für mich ein Gamechanger. Ich habe erkannt, dass allein schon die Präsenz und aktive Teilnahme einen großen Unterschied machen. Man hat die Möglichkeit, eigene Themen auf die Agenda zu setzen und wirklich mitzugestalten. Es dauert zwar, bis man seinen Platz gefunden hat, aber diese Räume müssen geschaffen werden – auch und vor allem in der Politik.
Allianzen sollten Räume schaffen, die eine echte Teilhabe für marginalisierte Gruppen ermöglichen. Denn solche Räume bedeuten Macht und Einfluss. Betroffene sollten dort ihre Erfahrungen und Expertise offen teilen können – nicht nur innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaften, sondern in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext. Durch offene Dialoge müssen wir Zivilcourage stärken und die Grundlage für solidarisches Handeln schaffen, um unsere gemeinsamen Werte von Vielfalt, Freiheit und Sicherheit zu schützen.
Um die heutige Frage zu beantworten: Was brauchen Allianzen, um proaktiv gegen das Erstarken der Rechten vorzugehen? Ich denke, es braucht keine neuen Antworten, sondern nur noch Taten, die folgen müssen, und den Mut, mehr Zuversicht zu wagen.
[1] DeZIM-Kurzstudie „Ablehnung, Angst und Abwanderungspläne – Die gesellschaftlichen Folgen des Aufstiegs der AfD“ September 2024 S. 7 Ablehnung, Angst und Abwanderungspläne. Die gesellschaftlichen Folgen des Aufstiegs der AfD (dezim-institut.de)
Dieser Text wurde als Input bei den diesjährigen JIK Talks: „Und jetzt? Gemeinsam durch bedrohliche Zeiten“ am 12.09.24 gehalten.
#rassismus #solidarität
- von Nurgül Kahriman
- am 29. Oktober 2024